Die Regelungen des Versicherungsaufsichtsgesetzes zur aufsichtsbehördlichen Genehmigung der Übertragung
des Bestands von Lebensversicherungsverträgen auf ein anderes Unternehmen sind verfassungswidrig,
soweit sie nicht sicherstellen, dass eine Genehmigung nur erfolgt, wenn die Belange der
Versicherten – bei Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit auch die Ansprüche der Vereinsmitglieder
auf Zahlung eines angemessenen Entgelts für den Verlust der Mitgliedschaft – gewahrt sind. Dies entschied
der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts mit Urteil vom 26. Juli 2005. Der Gesetzgeber
hat bis zum 31. Dezember 2007 eine Regelung zu treffen, die den verfassungsrechtlichen Anforderungen
gerecht wird. Für die in der Vergangenheit abgeschlossenen Bestandsübertragungsvorgänge bleibt es bei
dem bisherigen Rechtszustand.
Aufgrund der Feststellung der teilweisen Verfassungswidrigkeit der Regelung waren die von den Beschwerdeführern
nach Art von Musterprozessen mit Unterstützung des Bundes der Versicherten erhobenen
Verfassungsbeschwerden in ihrem Kern erfolgreich. Zur Verfolgung der individuellen Interessen
der Beschwerdeführer war es jedoch nicht angezeigt, eine erneute Überprüfung der Rechtmäßigkeit der
ihren Verfassungsbeschwerden zugrunde liegenden Genehmigungen der Bestandsübertragungen zu veranlassen.
Sachverhalt:
Im Verfahren 1 BvR 782/94 hatte das Versicherungsunternehmen, bei dem der Beschwerdeführer 1
eine Kapitallebensversicherung mit Überschussbeteiligung unterhält, im Zuge einer Umstrukturierung des
Konzerns alle Lebensversicherungsverträge auf eine neu gegründete Gesellschaft übertragen. Bei dieser
Bestandsübertragung hatte das ursprüngliche Unternehmen einen Teil des Vermögens (1,12%) mit einem
Buchwert von 90 Millionen DM zurückbehalten. Das zurückbehaltene Vermögen bestand aus Beteiligungen
an verbundenen Unternehmen sowie weiteren Unternehmen. Zum Ausgleich wurden vom ursprünglichen Unternehmen gewisse Verpflichtungen weiter getragen. Der Beschwerdeführer 1 meint,
durch das Zurückbehalten von Vermögenswerten sei sein Anspruch auf Überschussbeteiligung geschmälert
worden. Die Bestandsübertragung hätte daher nicht genehmigt werden dürfen.
Auch das Verfahren 1 BvR 957/96 betrifft eine Bestandsübertragung, aber mit der Besonderheit, dass
die Versicherten Mitglieder eines Versicherungsvereins auf Gegenseitigkeit waren. Sie blieben zwar Versicherungsnehmer,
verloren aber ihr Mitgliedschaftsrecht. Dafür sieht das Versicherungsaufsichtsgesetz
einen Ersatz durch ein Entgelt vor. Der Beschwerdeführer 2 meint, dass das festgesetzte Entgelt zu gering
war und deshalb die Bestandsübertragung nicht hätte genehmigt werden dürfen.
Die Beschwerdeführer sehen ihre Grundrechte, insbesondere das Eigentumsgrundrecht, aber auch die
Privatautonomie verletzt. Das Aufsichtsamt habe bei der Erteilung der Genehmigung ihre Belange nicht
ausreichend gewahrt. Das Amt prüfe nämlich nicht positiv, ob ihre vertraglichen Ansprüche voll befriedigt
würden, sondern nur negativ, ob ein Missstand vorliege oder die Belange der Versicherten nicht
ausreichend gewahrt würden (siehe auch Pressemitteilung Nr. 89 /2004 vom 24. September 2004).
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
I. Verfahren 1 BvR 782/94
Die Regelung zur Übertragung eines Bestands von Lebensversicherungsverträgen auf ein anderes Versicherungsunternehmen
ist am Maßstab von Art. 2 Abs. 1 GG (Schutz der Privatautonomie) und von Art.
14 Abs. 1 GG (Eigentumsgarantie) zu überprüfen. Diese Normen führen zu Schutzpflichten des Gesetzgebers
gegenüber den Versicherten, denen der Gesetzgeber nicht in hinreichendem Maße nachgekommen
ist.
1. Nach der gesetzlichen Regelung bedarf es für die Übertragung des Bestands von Lebensversicherungsverträgen
auf ein anderes Unternehmen nicht der Zustimmung des Versicherungsnehmers. Den
Versicherten wird durch die Bestandsübertragung ein neuer Schuldner aufgedrängt. Sie haben keine
Möglichkeit, ihre individuellen Interessen durch Einwirken auf die Bedingungen des Versicherungsübergangs privatautonom durchzusetzen. Um dieses vom Gesetzgeber selbst geschaffene Defizit auszugleichen,
verlangt Art. 2 Abs. 1 GG gesetzliche Schutzvorkehrungen.
Eine Schutzpflicht des Gesetzgebers ergibt sich zudem aus der Eigentumsgarantie. Der Gesetzgeber ist
verpflichtet, insbesondere vorzusorgen, dass die durch die Prämienzahlungen bei dem Unternehmen geschaffenen
Vermögenswerte, die der Erfüllung der Ansprüche der Versicherten dienen, diesen erhalten
bleiben.
2. Die verfassungsrechtlichen Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 14 Abs. 1 GG fordern
Sicherungen dafür, dass die durch Prämienzahlungen der Versicherungsnehmer beim Versicherer geschaffenen
Vermögenswerte im Fall von Bestandsübertragungen als Quellen für die Erwirtschaftung von
Überschüssen erhalten bleiben und den Versicherten in gleichem Umfang zugute kommen wie ohne Austausch
des Schuldners. Der Gesetzgeber hat im Versicherungsaufsichtsrecht zwar Schutzvorkehrungen
vorgesehen, aber nicht in hinreichendem Maße.
Der Gesetzgeber hat die Übertragung des Bestands von Lebensversicherungsverträgen auf ein anderes
Unternehmen dem Vorbehalt einer aufsichtsbehördlichen Genehmigung unterworfen und auf diese Weise
eine besondere Verantwortung für die Wahrung der Belange der Versicherten übernommen. Im Fall der
Bestandsübertragung ist sicherzustellen, dass die Versicherten nicht schlechter gestellt werden als vorher.
Der bei der Genehmigung der Bestandsübertragung anzuwendende gesetzliche Maßstab sichert den
verfassungsrechtlich geforderten Schutz speziell der Belange der Versicherten aber nicht hinreichend.
Nach § 8 VAG ist die Erlaubnis zum Betrieb eines Versicherungsunternehmens zu versagen, wenn die
„Belange der Versicherten nicht ausreichend gewahrt„ sind. Dieser Maßstab fordert nicht die positive
Feststellung einer angemessenen Berücksichtigung der Interessen der Versicherten im Gesamtgefüge
aller betroffenen Belange. Da die Versichertenbelange zu diesem Zeitpunkt noch nicht in konkreten Verträgen
individuell ausgestaltet sind, ist insoweit die negative Umschreibung des Prüfungsmaßstabs nicht zu
beanstanden. Dieser Maßstab wird durch § 14 VAG aber auch auf die Genehmigung der Bestandsübertragung
angewandt. Bei ihr liegen bereits rechtlich geschützte Positionen, darunter auch eigentumsrechtlich
erhebliche, vor. Sie bestimmen die Belange, die aus Anlass der Bestandsübertragung zu Gunsten der Versicherten zu wahren sind. Da die Bestandsübertragung nicht der Zustimmung der Versicherungsnehmer
bedarf, können sich diese um den Schutz ihrer individuellen Interessen nicht selbst kümmern. Die
verfassungsrechtliche Schutzpflicht fordert einen Ausgleich in der Weise, dass die Belange der Versicherten
von der Aufsichtsbehörde umfassend festzustellen und ungeschmälert in die Entscheidung über
die Genehmigung und die dabei vorzunehmende Abwägung einzubringen sind.
3. Der festgestellte Mangel lässt sich nicht durch eine den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügende
Auslegung der Normen des Versicherungsaufsichtsgesetzes beheben. Der Prüfungsmaßstab gibt
keine hinreichenden Anhaltspunkte für die Erfüllung der Schutzaufgabe. Eine den Besonderheiten der
Bestandsübertragung gerecht werdende Auslegung müsste im Übrigen dazu führen, dass der im Wortlaut
identische Maßstab in dieser Genehmigungssituation einen anderen Inhalt als bei der Erlaubnis der Geschäftsaufnahme
hätte. Auch dies widerspräche rechtsstaatlichen Bestimmtheitsanforderungen.
II. Verfahren 1 BvR 957/96
Der Gesetzgeber hat zu gewährleisten, dass den bei einer Bestandsübertragung aus einem Versicherungsverein
auf Gegenseitigkeit ausscheidenden Mitgliedern ein angemessener Ausgleich für den Verlust
der Mitgliedschaft gewährt wird. Das Gesetz hat zwar einen Anspruch auf ein Entgelt vorgesehen. Die
Regelungen des Versicherungsaufsichtsgesetzes sichern jedoch nicht, dass dieses einen vollen Ausgleich
für den erlittenen Verlust bietet.
1. Die Mitgliedschaft in einem Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit, die neben der Rechtsstellung aus
dem Versicherungsverhältnis eigenständige Bedeutung hat, steht unter dem Schutz der Eigentumsgarantie.
Die gesetzlich vorgesehene Zahlung eines Entgelts für den Verlust der Mitgliedschaft bedeutet die
Anerkennung eines eigentumsrechtlich erheblichen Gehalts der Mitgliedschaft.
2. Mit der – von der Zustimmung der Mitglieder nicht abhängigen – Genehmigung der Bestandsübertragung
geht das Versicherungsverhältnis vollständig auf den neuen Rechtsträger über mit der Folge, dass
die Vereinsmitgliedschaft erlischt. Dies steht nicht mit dem Schutz aus Art. 14 Abs. 1 GG in Widerspruch,
sofern für eine hinreichende Wahrung der Belange der Versicherten gesorgt ist. Die Regelungen
des Versicherungsaufsichtsgesetzes verfehlen aber das Ziel eines angemessenen Interessenausgleichs insoweit, als im Zuge der Genehmigung der Bestandsübertragung nicht gesichert ist, dass den ausscheidenden
Mitgliedern ein angemessenes Entgelt gezahlt wird.
Der Gesetzgeber bestimmt, dass das Entgelt „angemessen„ sein muss, gibt aber keine Anhaltspunkte für
die Ermittlung der Entgelthöhe. Insbesondere ist dem Gesetz nicht zu entnehmen, ob bei der Wertbestimmung
die stillen Reserven der übertragenen Vermögenswerte rechnerisch teilweise zu berücksichtigen
sind. Soweit über die Entgelthöhe im Zuge der Genehmigung der Aufsichtsbehörde zu befinden ist,
kommt die allgemeine Bestimmung des Versicherungsaufsichtsgesetzes (§ 14 i.V.m. § 8 VAG) zur Anwendung,
die eine Genehmigung nur ausschließt, wenn die Belange der Versicherten „nicht ausreichend
gewahrt„ sind. Diese Bestimmung sichert die Gewährung eines angemessenen Entgelts allerdings nicht,
wenn – wie es der Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts entspricht – bei der öffentlichrechtlichen
Genehmigung und ihrer gerichtlichen Überprüfung nur geklärt wird, ob das Entgelt unangemessen niedrig
ist, nicht dagegen, ob es angemessen hoch ist. Bei dieser Auslegung wirken sich die verfassungsrechtlichen
Defizite des aufsichtsrechtlichen Maßstabs auch zu Lasten der Wahrung der Belange der Mitglieder
im Hinblick auf die Bestimmung eines angemessenen Entgelts aus. Die betroffene Eigentumsposition wird
nicht ihrem Gewicht entsprechend in die Abwägung einbezogen.
Das verfassungsrechtliche Defizit wird nicht dadurch ausgeglichen, dass neben dem öffentlichrechtlichen
Genehmigungsverfahren für den betroffenen Versicherungsnehmer die Möglichkeit besteht, das angemessene
Entgelt im zivilrechtlichen Verfahren vor dem Landgericht bestimmen zu lassen. Bereits im Genehmigungsverfahren,
in dem die angemessene Zuordnung der verschiedenen betroffenen Belange zu
überprüfen ist, muss gesichert werden, dass die Belange der Vereinsmitglieder gewahrt werden. Die
Unzulänglichkeit des Prüfungsmaßstabs für das Genehmigungsverfahren wird durch die Verweisung auf
das landgerichtliche Verfahren nicht in einer Weise ausgeglichen, die den Schutzbedürfnissen der Vereinsmitglieder
gerecht wird.
3. Das verfassungsrechtliche Defizit lässt sich durch eine an Art. 14 Abs. 1 GG orientierte Auslegung der
Normen nicht hinreichend beheben. Denn nach wie vor wäre gesetzlich nicht abgesichert, dass die Angemessenheit
des Entgelts positiv festzustellen ist; auch bliebe im Gesetz offen, auf welcher Grundlage
die Angemessenheit zu beurteilen ist.
III. Der Gesetzgeber wird im Rahmen des ihm zukommenden Gestaltungsspielraums Lösungen zur Beseitigung
des Schutzdefizits bereit zu stellen haben. Er wird insbesondere zu klären haben, ob der Ausgleich
der Rechte der Versicherten und der Vereinsmitglieder mit rechtlich erheblichen Interessen anderer
Betroffener im vorhandenen normativen Rahmen oder im Zuge weiterer struktureller Veränderungen
des Versicherungsrechts und des mit ihm verknüpften Gesellschaftsrechts sowie des Bilanzrechts erfolgen
soll. Zu dieser Klärung gehört die Prüfung von Vorkehrungen zur Sicherung größerer Transparenz
und neuer verfahrensmäßiger Wege zum Schutz der betroffenen Belange.
Urteil vom 26. Juli 2005 – 1 BvR 782/94 u. 1 BvR 957/96 –
Karlsruhe, den 26. Juli 2005