Rechtlicher Hintergrund und Sachverhalt:
Das Fremdrentenrecht war von der Leitidee bestimmt, Vertriebene und Flüchtlinge in das Wirtschafts-
und Sozialsystem der Bundesrepublik Deutschland zu integrieren. Sie wurden renten-rechtlich nach dem Zuzug so behandelt, als ob sie ihre bisherige Erwerbstätigkeit unter der Geltung
des Rentenversicherungsrechts der Bundesrepublik Deutschland zurückgelegt hätten. Den
von den Vertriebenen in den Herkunftsländern zurückgelegten Versicherungszeiten wurden fiktive
Bruttoarbeitsentgelte zugeordnet, für die dann – wie für originäre Versicherungszeiten in der
Bundesrepublik Deutschland – Entgeltpunkte ermittelt werden. Die Versicherung eines Arbeitseinkommens
in Höhe des Durchschnittsentgelts eines Kalenderjahres ergibt einen vollen
Entgeltpunkt, aus dem der monatliche Rentenbetrag berechnet wird.
Der politische Wandel in den ehemaligen Ostblock-Staaten und die Wende in der DDR veranlassten
den Gesetzeber, das Fremdrentenrecht neu zu regeln. Zunächst führte er 1991 einen Abschlag
in Höhe von 30 Prozent auf die nach dem Fremdrentengesetz ermittelten Entgeltpunkte
ein. Ausgenommen waren unter anderem Aussiedler, die vor 1991 ihren gewöhnlichen Aufenthalt
in der Bundesrepublik Deutschland genommen haben. Im Jahr 1996 erhöhte der Gesetzgeber
den Abschlag auf 40 Prozent und erweiterte den betroffenen Personenkreis durch Änderung der
entsprechenden Übergangsregelung. Damit werden von dem Rentenabschlag grundsätzlich alle
nach dem 6. Mai 1996 Zugezogenen und – unabhängig vom Datum des Zuzugs – alle nach dem
Fremdrentengesetz Berechtigten mit einem Rentenbeginn ab 1. Oktober 1996 erfasst.
Die fünf Kläger der den Vorlagen zugrunde liegenden Ausgangsverfahren siedelten in der Zeit
von Oktober 1973 bis August 1990 in die Bundesrepublik Deutschland über. Frühestens ab Oktober
1996 wurde ihnen eine Rente bewilligt. In allen Fällen wurden die nach dem Fremdrentenrecht
ermittelten Entgeltpunkte um 40 Prozent gekürzt.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
I. Die in § 22 Abs. 4 FRG 1996 vorgeschriebene Reduzierung der Entgeltpunkte um 40 Prozent
ist mit dem Grundgesetz vereinbar.
1. Die Regelung ist nicht an Art. 14 Abs. 1 GG (Eigentumsschutz) zu messen. Die durch
das Fremdrentengesetz begründete Rentenanwartschaft unterliegt nicht dem Eigentumsschutz,
wenn ihr ausschließlich Beitrags- und Beschäftigungszeiten zugrunde liegen, die
in den Herkunftsgebieten erbracht oder zurückgelegt wurden. Denn insoweit fehlt es am
Erfordernis der an einen Versicherungsträger in der Bundesrepublik Deutschland erbrachten
Eigenleistung.
2. Selbst wenn man die Rentenanwartschaft der Berechtigten, die auf rentenrechtlichen Zeiten
sowohl in den Herkunftsgebieten als auch in der Bundesrepublik Deutschland beruht,
als Gesamtrechtsposition insgesamt dem Art. 14 Abs. 1 GG unterstellen würde, hätte der
Gesetzgeber durch § 22 Abs. 4 FRG 1996 von seiner Befugnis zur Bestimmung von Inhalt
und Schranken des Eigentums einen verfassungsgemäßen Gebrauch gemacht.
Der in der gesetzlichen Regelung liegende Eingriff ist durch Gründe des Allgemeinwohls
gerechtfertigt. Die wirtschaftliche Situation der Rentenversicherungsträger war in der
ersten Hälfte der 1990er Jahre durch einen massiven Anstieg der Ausgaben gekennzeichnet,
denen ein ausreichendes Beitragsaufkommen nicht gegenüberstand. Die in Frage
stehende Regelung diente dazu, durch Begrenzung des Ausgabevolumens die Funktions-
und Leistungsfähigkeit des Systems der gesetzlichen Rentenversicherung zu erhalten, zu
verbessern und den veränderten wirtschaftlichen Bedingungen anzupassen.
§ 22 Abs. 4 FRG 1996 ist auch verhältnismäßig. Ist es zur Sicherung der Finanzierungsgrundlagen
der gesetzlichen Rentenversicherung geboten, rentenrechtliche Positionen zu
verändern, so kann der soziale Bezug, der dem Gesetzgeber größere Gestaltungsfreiheit
bei Eingriffen gibt, den Gesetzgeber legitimieren, in Abwägung zwischen Leistungen an
Versicherte und Belastungen der Solidargemeinschaft vor allem jene Positionen zu verkürzen,
die Ausdruck besonderer Vergünstigungen sind. Dies ist hier in Bezug auf die
Anwartschaftsteile der Fall, denen Beitrags- und Beschäftigungszeiten außerhalb der gesetzlichen
Rentenversicherung der Bundesrepublik Deutschland zugrunde liegen. Denn
diesen Anwartschaften stehen Beitragsleistungen zu Gunsten der versicherungsrechtlichen
Solidargemeinschaft nicht gegenüber.
3. Auch Art. 3 Abs. 1 GG (allgemeiner Gleichheitssatz) ist nicht verletzt. Soweit die nach
dem Fremdrentengesetz Berechtigten anders als diejenigen behandelt werden, die Anwartschaften
im sozialen Sicherungssystem der DDR erworben hatten, ergibt sich die
Rechtfertigung der Ungleichbehandlung daraus, dass die beiden deutschen Staaten eine
Einheit auch auf dem Gebiet der Sozialversicherung angestrebt und vereinbart haben.
II. Es ist jedoch mit Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem rechtsstaatlichen Vertrauensschutzprinzip
unvereinbar, dass § 22 Abs. 4 FRG 1996 auf Berechtigte, die vor dem 1. Januar
1991 ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland genommen
haben und deren Rente nach dem 30. September 1996 beginnt, ohne eine Übergangsregelung
für zu diesem Zeitpunkte rentennahe Jahrgänge zur Anwendung kommt.
1. Die getroffene Übergangsregelung, die auch Berechtigte, die bereits vor dem 1. Januar
1991 zugezogen sind, von der Kürzung nicht ausnimmt, wird grundsätzlich den Anforderungen
des rechtsstaatlichen Vertrauensschutzes gerecht. Die Betroffenen durften nicht
damit rechnen, dass sie über die gesamte Zeit ihres Versicherungsverhältnisses bis zum
Beginn der Rente nicht mehr von Kürzungen betroffen sein würden. Ein schutzwürdiges
Vertrauen darauf, dass allein die nach dem 1. Januar 1991 in die Bundesrepublik zugezogenen,
nach dem Fremdrentengesetz Berechtigten die Last der Sanierung der Rentenversicherungsträger
auf Dauer zu tragen hätten, besteht nicht.
2. Der Gesetzgeber war jedoch unter dem Gesichtspunkt des rechtsstaatlichen Vertrauensschutzprinzips
gehalten, auf die legitimen Interessen der rentennahen Jahrgänge durch
Erlass einer Übergangsregelung Rücksicht zu nehmen, die eine auf Rentenzugänge ab
dem 1. Oktober 1996 ohne Einschränkung sofort wirksame Anwendung des § 22 Abs. 4
FRG 1996 verhindert. Eine solche Regelung hätte es den Betroffenen ermöglicht, sich
auf die neue Rechtslage in angemessener Zeit einzustellen. Die Entscheidung des Gesetzgebers,
§ 22 Abs. 4 FRG 1996 auf alle Rentenzugänge nach dem 30. September 1996
anzuwenden, hat die rentennahen Jahrgänge zu kurzfristig mit einer neuen, ihre Anwartschaften
erheblich verschlechternden Rechtslage konfrontiert. Bei einer schrittweisen
Anwendung des Abschlags auf die Entgeltpunkte wäre es den Betroffenen möglich gewesen,
von mittel- und langfristig wirkenden finanziellen Dispositionen abzusehen oder
diese der verringerten Rente anzupassen.
Nr. 58/2006 vom 30. Juni 2006
Beschluss vom 13. Juni 2006
1 BvL 9/00; 1 BvL 11/00; 1 BvL 12/00; 1 BvL 5/01; 1 BvL 10/04