BVerfG: Kürzung der Erwerbsminderungsrenten auch bei Rentenbeginn vor dem 60. Lebensjahr verfassungsgemäß

Der Monatsbetrag einer Rente wird nach einer Rentenformel berechnet, die
in einem ihrer Rechenschritte die Multiplikation aller in einem
Versichertenleben erworbenen Entgeltpunkte mit dem sog. Zugangsfaktor
vorsieht.

Bis zum 31. Dezember 2000 betrug der Zugangsfaktor bei
Erwerbsminderungsrenten 1,0. Durch das Gesetz zur Reform der Renten
wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20. Dezember 2000 wurde der
Zugangsfaktor gekürzt. Gemäß der ab dem 1. Januar 2001 geltenden Fassung
des § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI wird der Zugangsfaktor von 1,0 für
jeden Monat, in dem die Erwerbsminderungsrente vor Vollendung des 63.
Lebensjahres in Anspruch genommen wird, um 0,003 verringert. Bei einem
Rentenbeginn vor Vollendung des 60. Lebensjahres bleibt für die
Bestimmung des Zugangsfaktors allerdings die Vollendung des 60.
Lebensjahres maßgebend, d. h. der davor liegende Zeitraum der
Renteninanspruchnahme führt nicht zu einer weiteren Kürzung. Die
Einschränkung stellt somit sicher, dass auch bei einem Rentenbezug vor
Vollendung des 60. Lebensjahres der Rentenmonatsbetrag höchstens um 10,8
% gekürzt wird.

Um die Wirkung dieser Rentenkürzung zu mildern, hat der Gesetzgeber
gleichzeitig die Zurechnungszeit für Versicherte ab dem 55. Lebensjahr
voll anerkannt, während diese bis zum 31. Dezember 2000 nur zu einem
Drittel berücksichtigt wurde. Zurechnungszeit ist die Zeit, die bei
einer Erwerbsminderungsrente hinzugerechnet wird, wenn der Versicherte
das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Es werden zusätzliche
Entgeltpunkte bei der Rentenberechnung berücksichtigt, um eine
ausreichende Rente auch im Falle vorzeitiger Invalidität zu
gewährleisten. Zudem wurden Übergangsvorschriften geschaffen, die eine
schrittweise Einführung der neuen Rechtslage vorsahen, so dass die volle
Absenkung des Zugangsfaktors erst für Versicherte mit Rentenbeginn ab
dem 1. Dezember 2003 eintrat.

Den Beschwerdeführern wurde wegen teilweiser bzw. voller
Erwerbsminderung eine Rente bewilligt. Da der Beschwerdeführer im
Verfahren 1 BvR 3588/08 bei Rentenbeginn im Jahre 2005 erst 51 Jahre alt
war, wurde der Zugangsfaktor nach der Neuregelung entsprechend gekürzt,
so dass sich – unter Berücksichtigung der geänderten Zurechnungszeit –
seine Rente um ca. 3,18 % minderte. Dies entspricht einer monatlichen
Kürzung um etwa 15 Euro. Im Fall der Beschwerdeführerin im Verfahren 1
BvR 555/09, die zum Zeitpunkt des Rentenbeginns im Juli 2002 57 Jahre
alt war, betrug die Kürzung der Rente aufgrund der Neuregelung im
Ergebnis ca. 3,88 %, mithin etwa 16 Euro monatlich. Wegen des
Rentenbeginns vor dem 1. Januar 2004 wurde auf ihre Rente die
Übergangsregelung angewandt. Die gegen die Rentenkürzung erhobenen
Klagen der Beschwerdeführer blieben letztlich vor dem
Bundessozialgericht jeweils ohne Erfolg. Mit ihren
Verfassungsbeschwerden rügen sie eine Verletzung ihres Grundrechts auf
Eigentum aus Art. 14 Abs. 1 GG, des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art.
3 Abs. 1 GG) sowie des Benachteiligungsverbotes aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2
GG.

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat die
Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen. Die Beschwerdeführer werden durch
die angegriffenen Behörden- und Gerichtsentscheidungen sowie durch die
Neuregelung des Zugangsfaktors in § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI nicht
in ihren Grundrechten verletzt.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:

1. Die Einführung eines gekürzten Zugangsfaktors bei Beginn der
Erwerbsminderungsrente vor Vollendung des 63. Lebensjahres durch § 77
Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI betrifft den Schutzbereich des Grundrechts
auf Eigentum. Die Vorschrift bestimmt Inhalt und Schranken des Eigentums
und greift hierbei zugleich in bestehende Rentenanwartschaften ein.

Die Regelung ist jedoch verfassungsgemäß, weil sie einem Gemeinwohlzweck
dient und verhältnismäßig ist. Die Neuregelung des Zugangsfaktors dient
dem legitimen Ziel, die Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung
zu sichern und damit die Funktionsfähigkeit des Systems der gesetzlichen
Rentenversicherung im Interesse aller zu erhalten, zu verbessern und den
veränderten wirtschaftlichen Bedingungen anzupassen. Nach Einführung der
Abschläge bei vorzeitigem Bezug einer Altersrente durch das
Rentenreformgesetz im Jahre 1992 ging der Gesetzgeber davon aus, dass
Versicherte anstelle einer gekürzten Altersrente bevorzugt eine
Erwerbsminderungsrente beantragen würden. Mit der Absenkung des
Zugangsfaktors bei Erwerbsminderungsrenten sollte ein solches Ausweichen
auf die Erwerbsminderungsrente verhindert und auf die Inanspruchnahme
der Rente vor Eintritt des Regelalters für die Altersrente und damit auf
eine Verlängerung der Rentenbezugszeit reagiert werden.

Die Kürzung des Zugangsfaktors war geeignet sowie erforderlich, um
dieses angestrebte Ziel zu erreichen, und belastet die Beschwerdeführer
nicht übermäßig. Zwar hatten sie bei Inkrafttreten der Neuregelung noch
nicht das 60. Lebensjahr vollendet und damit eine Voraussetzung für den
Bezug einer vorzeitigen Altersrente nicht erfüllt, so dass bei ihnen
eine Ausweichreaktion von vorneherein ausscheidet. Aber auch den
Versicherten, die vor Vollendung des 60. Lebensjahres eine
Erwerbsminderungsrente beantragen, ist eine Kürzung des Zugangsfaktors
zumutbar, weil sie von der vom Gesetzgeber gleichzeitig eingeführten
erhöhten Zugangszeit und vom früheren Rentenbezug profitieren. Dadurch
wird die Kürzung der Erwerbsminderungsrente für diese Versichertengruppe
im Ergebnis erheblich gemildert mit der Folge, dass die Bezieher einer
Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit mit erheblich geringeren
Abschlägen belastet werden als Versicherte, die vorzeitig eine
Altersrente in Anspruch nehmen.

Des Weiteren ist auch dem Grundsatz des Vertrauensschutzes durch die vom
Gesetzgeber geschaffenen Übergangsregelungen hinreichend Rechnung
getragen worden.

2. Da sich die Inhalts- und Schrankenbestimmung in § 77 Abs. 2 Satz 1
Nr. 3 SGB VI als sachgerecht erweist, liegt auch kein Verstoß gegen den
allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG vor. Der Umstand, dass
der Zugang zur Erwerbsminderungsrente – anders als die vorzeitige
Inanspruchnahme von Altersrente – eine schicksalhafte Entwicklung des
Gesundheitszustandes voraussetzt, ist dadurch hinreichend
berücksichtigt, dass die Abschläge bei Erwerbsminderungsrenten bei
weitem nicht die bei Altersrenten mögliche Höhe erreichen und zudem noch
durch die erhöhten Zurechnungszeiten teilweise kompensiert werden.

3. Die Rüge der Beschwerdeführer, sie würden gegenüber nichtbehinderten
Altersrentnern hinsichtlich der Abschläge beim Zugangsfaktor rechtlich
gleich behandelt, vermag schließlich auch keinen Verstoß gegen das
Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG zu begründen. Zum
einen ist der rentenrechtliche Behindertenbegriff nicht identisch mit
dem allgemeinen auf die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben
abstellenden Behindertenbegriff, an dem sich Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG
orientiert. Denn der Anspruch auf Erwerbsminderungsrente stellt allein
auf die Fähigkeiten des Versicherten auf dem Arbeitsmarkt ab und lässt
auch eine vorübergehende Krankheit ausreichen. Zum anderen ist die
Vorschrift des § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI, soweit sie Behinderte im
Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG trifft, wegen der oben dargestellten
Berücksichtigung der gesundheitsbedingten Unfähigkeit, zu arbeiten, im
Vergleich zu sonstigen Erwerbslosigkeiten noch gerechtfertigt.

Pressemitteilung Nr. 17/2011 vom 18. Februar 2011

Beschluss vom 11. Januar 2011
1 BvR 3588/08, 1 BvR 555/09