BVerfG: Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen Wohnungsdurchsuchung

BVerfG: Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen Wohnungsdurchsuchung

Urteil aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 21. November 2000

Der Zweite Senat des BVerfG hat heute ein Urteil
verkündet, mit dem er
die verfassungsrechtlichen Anforderungen an
Durchsuchungsanordnungen
aufgrund von “Gefahr im Verzug” in Art. 13 Abs. 2 GG
präzisiert.

I.
Der Beschwerdeführer (Bf) ist Polizeibeamter. Seine
Behörde führte ein
Ermittlungsverfahren gegen einen gewissen B. wegen
Betäubungsmitteldelikten. Nachdem B. in einer
polizeilichen Vernehmung
ausgesagt hatte, der Bf habe ihm am 6. März 2000 bei einem
zufälligen
Zusammentreffen verraten, dass B.´s Telefon überwacht
werde, wurde ein
Ermittlungsverfahren gegen den Bf wegen Verdachts der
Bestechlichkeit
und der Verletzung des Dienstgeheimnisses eingeleitet. Am
12. April um
12.15 Uhr beantragte die Staatsanwaltschaft (StA) die
richterliche
Zeugenvernehmung des B., die am selben Tage zwischen 13.05
Uhr und 13.15
Uhr vorgenommen wurde. Am 13. April morgens wurde die
Lebensgefährtin
des B. als Zeugin polizeilich vernommen. Im Anschluss
daran übernahm
gegen 11.00 Uhr “aus Gründen der Objektivität und
Neutralität” eine
andere Polizeibehörde die Bearbeitung des
Ermittlungsverfahrens gegen
den Bf.. Am späten Vormittag ordnete der
Eildienststaatsanwalt
telefonisch die Durchsuchung von Arbeitsplatz, Wohnung,
Fahrzeug und
Person des Bf wegen Gefahr im Verzug an. Nach einem
Vermerk des
sachbearbeitenden Polizisten sei der Bf der Verletzung des
Dienstgeheimnisses dringend verdächtig. Vorteilsannahme
oder
Bestechlichkeit sei “nicht auszuschließen”.
Um 13.00 Uhr wurden das Dienstzimmer des Bf und um 14.00
Uhr seine
Wohnung durchsucht. Die Polizei beschlagnahmte diverse
Unterlagen und
Disketten. Der Bf erhob sofort Widerspruch.
Der Ermittlungsrichter am Amtsgericht bestätigte mit
Beschluss vom 30.
Mai 2000 Durchsuchung und Beschlagnahme, “weil die
Maßnahmen nach dem
bisherigen Stand der Ermittlungen gerechtfertigt waren, um
Beweismittel
sicherzustellen, die für die weitere Untersuchung von
Bedeutung seien
können”. Der Bf war zuvor angehört, sein Antrag auf
Akteneinsicht
allerdings abgelehnt worden.
Während des Beschwerdeverfahrens vor dem Landgericht
stellte die
Staatsanwaltschaft fest, dass die beschlagnahmten
Unterlagen und
Disketten keine beweiserheblichen Hinweise ergeben. Sie
gab diese
zurück.
Nach Akteneinsicht trug der Bf zur Begründung seiner
Beschwerde
ergänzend vor, die Voraussetzungen für die Annahme von
Gefahr im Verzug
hätten nicht vorgelegen. Der Akte lasse sich nicht
entnehmen, aufgrund
welcher Tatsachen die StA die Durchsuchung angeordnet
habe. Auch sei
nicht ersichtlich, welche Beweismittel die Durchsuchung
erbringen
sollte.
Mit Beschluss vom 19. Juli 2000 verwarf das Landgericht
die Beschwerde
als unbegründet. Gefahr im Verzug habe vorgelegen; sie sei
anzunehmen,
wenn eine richterliche Durchsuchungsanordnung nicht
eingeholt werden
könne, ohne den Zweck der Maßnahme zu gefährden. Ob dies
der Fall sei,
entscheide der Beamte nach pflichtgemäßem Ermessen. Hier
habe Anlass zu
der Befürchtung bestanden, jede weitere zeitliche
Verzögerung werde zur
Vernichtung von Beweismitteln führen. Insbesondere
belastende Daten auf
Disketten könnten durch einfachen Tastendruck in
Sekundenschnelle
gelöscht werden. Da die Einholung einer richterlichen
Anordnung zu
zeitlichen Verzögerungen hätte führen können, sei es nicht
ermessensfehlerhaft gewesen, auf eine solche zu
verzichten. Eine
bewusste Ausschaltung des Richters sei das nicht, zumal
absehbar gewesen
sei, dass der Bf Widerspruch erheben und somit eine
spätere richterliche
Entscheidung herbeiführen werde.

II.
Der Zweite Senat des BVerfG hat die angegriffenen
Beschlüsse des
Amtsgerichts und des Landgerichts aufgehoben, soweit sie
die
Durchsuchung der Wohnung des Bf betreffen.
Sie verletzen den Bf in seinen Grundrechten aus Art. 13
Abs. 1, Abs. 2
i.V.m. Art. 19 Abs. 4 GG.
1. Der Zweite Senat betont zunächst die Bedeutung des
Richtervorbehalts
in Art. 13 Abs. 2 GG. Dieser dient der vorbeugenden
Kontrolle des mit
einer Wohnungsdurchsuchung verbundenen
Grundrechtseingriffs durch eine
unabhängige und neutrale Instanz. Dabei hat der Richter
nicht zuletzt
durch eine geeignete Formulierung im Durchsuchungsbeschluss
sicherzustellen, dass der Grundrechtseingriff messbar und
kontrollierbar
bleibt.
Aus Art. 13 GG folgt die Pflicht aller Staatsorgane, die
Wirksamkeit des
Richtervorbehalts sicherzustellen. Gerichte und
Strafverfolgungsbehörden
müssen die Voraussetzungen für eine wirksame Kontrolle
auch durch
organisatorische Maßnahmen schaffen. Mängel, die zum
Beispiel daraus
resultieren, dass Ermittlungsrichter am Amtsgericht nicht
erreichbar
oder aufgrund zu hoher Arbeitsbelastung nicht hinreichend
informiert
sind, müssen behoben werden. Dies kann der einzelne
Richter nicht
alleine; Geschäftsverteilungspläne, Ausstattung des
Gerichts, Aus- und
Fortbildungsangebote für die Richter und die vollständige
Information
durch die Strafverfolgungsbehörden sind hierfür
anzupassende
Rahmenbedingungen. Die für die Organisation der Gerichte
und für die
Rechtsstellung der dort tätigen Ermittlungsrichter
zuständigen Organe
der Länder und des Bundes sind im Hinblick auf Art. 13 GG
gehalten, die
Voraussetzungen für eine tatsächlich wirksame präventive
richterliche
Kontrolle zu schaffen.

Die Annahme von “Gefahr im Verzug” verlagert die
Anordnungskompetenz
ausnahmsweise vom Richter auf die
Strafverfolgungsbehörden. Der Begriff
“Gefahr im Verzug” im Grundgesetz ist daher eng
auszulegen. Die
Anordnung einer Durchsuchung durch StA und Polizei als
Strafverfolgungsbehörden hat die Ausnahme zu sein. Dies
ergibt sich
schon aus der Formulierung des Grundgesetzes, die im
Gegensatz zur
Weimarer Reichsverfassung und dem Herrenchiemsee-Entwurf
den
Richtervorbehalt und die Ausnahmebestimmung über “Gefahr
im Verzug”
ausdrücklich in die Verfassung aufgenommen hat. Die
Anordnung der
Durchsuchung durch die Strafverfolgungsbehörden führt zum
Wegfall der
präventiven Kontrolle des Grundrechtseingriffs durch die
neutrale
richterliche Instanz. Zudem fehlt die
eingriffsminimierende Wirkung der
schriftlichen richterlichen Durchsuchungsanordnung. Durch
eine
nachträgliche richterliche Kontrolle kann der vorgenommene
Grundrechtseingriff nicht rückgängig gemacht werden.
Andererseits ist
der Staat in Wahrung der Rechtspflege auch zur wirksamen
Strafverfolgung
verpflichtet. Daraus folgt, dass die
Strafverfolgungsbehörde in der Lage
sein muss, so frühzeitig über das Vorliegen von “Gefahr im
Verzug” zu
entscheiden, dass sie der Gefahr eines
Beweismittelverlustes noch
wirksam begegnen kann.
Nach diesen Maßstäben muss im Rahmen des Möglichen
sichergestellt
bleiben, dass die Regelzuständigkeit des Richters für die
Durchsuchungsanordnung bestehen bleibt. Das Vorliegen von
“Gefahr im
Verzug” kann nicht durch Spekulationen begründet werden,
es müssen auf
den Einzelfall bezogene Tatsachen vorliegen. Auch reicht
die bloße
Möglichkeit eines Beweismittelverlusts nicht aus. Die
Voraussetzungen
für die Eilzuständigkeit dürfen nicht durch ein Abwarten
seitens der
Strafverfolgungsbehörden selbst herbeigeführt werden.
Diese müssen
regelmäßig zunächst versuchen, einen Richter zu erreichen.
Die Gerichte
wiederum müssen die Erreichbarkeit des Ermittlungsrichters
sicherstellen.

2. Aus Art. 19 Abs. 4 GG folgt der Anspruch des Bürgers
auf eine
wirksame Kontrolle der öffentlichen Gewalt durch
unabhängige Gerichte.
Die Gerichte müssen Maßnahmen der öffentlichen Gewalt
rechtlich und
tatsächlich überprüfen können; sie sind nicht an die
Feststellungen und
Wertungen der Behörden gebunden. Diese Verpflichtung
findet ihre Grenze
da, wo das materielle Recht der Exekutive in
verfassungsrechtlich
unbedenklicher Weise Entscheidungen abverlangt, ohne
hinreichend
bestimmte Entscheidungsprogramme vorzugeben. Art. 13 Abs.
1 und 2 GG
eröffnet jedoch einen solchen Spielraum nicht. Die Frage,
ob “Gefahr im
Verzug” vorliegt (bzw. im Zeitpunkt des Eingreifens der
Strafverfolgungsbehörden vorlag) unterliegt der
unbeschränkten
gerichtlichen Kontrolle. Insoweit ist weder ein Ermessens-
noch ein
Beurteilungsspielraum der Strafverfolgungsbehörden
gegeben. Allerdings
müssen die Gerichte bei ihrer nachträglichen Beurteilung
der Frage, ob
die Strafverfolgungsbehörde zu recht wegen “Gefahr im
Verzug”
eingegriffen hat, deren besonderer Situation Rechnung
tragen. Der
Richter darf seine nachträgliche Einschätzung der Lage
nicht an die
Stelle der Einschätzung der handelnden Beamten setzen. Er
muss
berücksichtigen, unter welchen Bedingungen die Beamten
über eine
Durchsuchung entschieden haben und welcher zeitliche
Rahmen ihnen
gesteckt war. Auch Umstände wie Zeitdruck, die Möglichkeit
zur
Rücksprache mit Kollegen und die situationsbedingten
Grenzen von
Erkenntnismöglichkeiten sind zu beachten.
Die verfassungsrechtlich gebotene volle gerichtliche
Kontrolle der
Annahme von “Gefahr im Verzug” ist in der Praxis nur
möglich, wenn die
handelnden Behörden die Grundlagen ihrer Entscheidung
hinreichend
dokumentieren. Aus Art. 19 Abs. 4 GG ergeben sich daher
für die
Strafverfolgungsbehörden Dokumentations- und
Begründungspflichten, die
den wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz erst möglich
machen. So muss
zeitnah dargelegt werden, aufgrund welcher Umstände der
handelnde Beamte
die Gefahr eines Beweismittelverlusts angenommen hat. Das
Gericht muss
über die konkrete Sachlage zum Zeitpunkt der
Behördenentscheidung
informiert werden. Auch muss erkennbar sein, ob der Beamte
versucht hat,
einen Ermittlungsrichter zu erreichen.
Auf der Grundlage einer solchen Dokumentation haben die
Strafverfolgungsbehörden ihre Durchsuchungsanordnung in
einem späteren
gerichtlichen Verfahren zu begründen. Dabei müssen sie die
gesetzlichen
Voraussetzungen der Durchsuchung darlegen und begründen,
warum eine
richterliche Anordnung zu spät gekommen wäre sowie ggfs.,
warum von dem
Versuch abgesehen wurde, eine richterliche Entscheidung zu
erlangen.

3. Nach diesen Maßstäben verletzen die angegriffenen
Entscheidungen den
Bf in seinen Grundrechten aus Art. 13 Abs. 1, Abs. 2
i.V.m. Art. 19
Abs.4 GG. Das Amtsgericht hat die Frage der Gefahr im
Verzug überhaupt
nicht geprüft. Das Landgericht hat angenommen, deren
Feststellung stehe
im Ermessen der anordnenden StA. Wie der Zweite Senat
ausführt, hat es
damit seinen Prüfungsmaßstab in grundrechtswidriger Weise
verletzt.
Zudem hat das Landgericht bei der Auslegung des Begriffs
“Gefahr im
Verzug” die verfassungsrechtlichen Vorgaben aus Art. 13 GG
nicht
berücksichtigt. Insbesondere hat es nicht aufgeklärt, aus
welchen
Gründen die StA hier Gefahr im Verzug angenommen hat.

Urteil vom 20. Februar 2001 – Az. 2 BvR 1444/00 –

Karlsruhe, den 20. Februar 2001