Die Verfassungsbeschwerde einer vietnamesischen Staatsangehörigen, die auf Grund eines vietnamesischen
Haftbefehls an die Sozialistische Republik Vietnam ausgeliefert werden soll, war erfolgreich. Die
1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts stellte fest, dass die Entscheidung des
Kammergerichts, das die Auslieferung für zulässig erklärt hatte, die Beschwerdeführerin in ihrem Recht
auf rechtliches Gehör verletzt. Das Kammergericht habe den Vortrag der Beschwerdeführerin zur mangelnden
Rechtsstaatlichkeit des Strafverfahrens in Vietnam nicht hinreichend berücksichtigt. Die Beschlüsse
wurden aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Kammergericht zurückverwiesen.
Sachverhalt:
Die Beschwerdeführerin kam 1994 nach Deutschland. In den Jahren 1995/96 soll sie die Geliebte eines
Chefs des vietnamesischen Zigarettenschmugglerrings in Berlin gewesen sein. Im Sommer 1998 verließ
sie Deutschland, kam aber im August 1998 zurück, um als Zeugin in Strafverfahren gegen Chefs der
vietnamesischen Zigarettenbande auszusagen. Nach einem Monat kehrte sie freiwillig nach Vietnam zurück.
Im Jahr 2000 reiste sie wieder nach Deutschland ein. Die vietnamesischen Behörden ersuchten
Anfang 2004 um die Auslieferung der Beschwerdeführerin auf Grund eines vietnamesischen Haftbefehls
wegen des Kaufs von jeweils 350 g Heroin in sieben Fällen zwischen Herbst 1998 und Sommer 1999.
Daraufhin wurde die Beschwerdeführerin in Deutschland festgenommen.
Die Beschwerdeführerin beantragte, das Auslieferungsersuchen für unzulässig zu erklären, da das Strafverfahren
in Vietnam rechtsstaatlichen Mindestanforderungen nicht genüge. Der Tatvorwurf sei lediglich konstruiert, um sie als Zeugin in den laufenden Prozessen in Deutschland gegen Mitglieder der vietnamesischen Zigarettenmafia auszuschalten. Die sie belastenden Aussagen stammten allein von einem bereits
hingerichteten Mitbeschuldigten. Das Geständnis sei nicht auf rechtsstaatlichem Wege gewonnen worden.
Das angerufene Kammergericht sah jedoch keinen Anlass für eine Tatverdachtsprüfung und erklärte
die Auslieferung für zulässig. Die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin
hatte Erfolg.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
Die Auseinandersetzung mit den Ausführungen und Stellungnahmen zur Rechtsstaatlichkeit des Strafverfahrens
in Vietnam sind maßgeblich für die Entscheidung über die Auslieferung. Denn davon hängt ab, ob
das Kammergericht dies zum Anlass nimmt, den Tatverdacht gegen die Beschwerdeführerin anhand
vietnamesischer Unterlagen näher zu prüfen. Das Kammergericht könnte dadurch zu dem Ergebnis
kommen, dass der Beschwerdeführerin in Vietnam ein Verfahren droht, das gegen unabdingbare, von
allen Rechtsstaaten anerkannte Grundsätze und damit gegen den völkerrechtlich verbindlichen Mindeststandard
im Sinne des Art. 25 GG verstößt.
Das Kammergericht hat den Anspruch der Beschwerdeführerin auf rechtliches Gehör aus Art. 103
Abs. 1 GG verletzt. Es hat nicht zu der grundsätzlichen Frage Stellung genommen, ob Strafverfahren in
Vietnam rechtsstaatlichen Mindestanforderungen genügen und inwiefern dies bei Drogendelikten zusätzlich
problematisch sei. Die Beschwerdeführerin hatte dazu immer wieder aktuelle und umfangreiche Auskünfte
anerkannter Menschenrechtsorganisationen und verschiedener Regierungen sowie Zeitungsartikel
vorgelegt. Die Frage, ob die Verbindungen der Beschwerdeführerin zur Zigarettenmafia und zum Ausland
sowie der behauptete bisherige Gang des Verfahrens in Vietnam zu weiteren rechtsstaatlichen Bedenken
Anlass geben, streifte das Kammergericht nur. Hinzu kommt, dass das Kammergericht sich auch
mit den drei Stellungnahmen von Organisationen zur Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens im Fall der Beschwerdeführerin
nicht auseinandergesetzt hat. Selbst behördliche Äußerungen fanden keinen Niederschlag
in den Entscheidungen. So hat das Kammergericht die Einschätzung der Generalstaatsanwaltschaft,
wonach nicht von vorneherein ausgeschlossen werden könne, dass in bestimmten kriminellen
vietnamesischen Kreisen ein Interesse daran bestehe, die Beschwerdeführerin als Zeugin auszuschalten
oder sich an ihr zu rächen, nicht erwähnt.
Die angegriffenen Entscheidungen sind aufzuheben. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das
Kammergericht bei einer umfassenden Auswertung der Auskünfte unter Berücksichtigung des gesamten
Vortrags der Beschwerdeführerin und anderer Behörden zu einem anderen Ergebnis kommt.
Pressemitteilung Nr. 119/2005 vom 7. Dezember 2005
Beschluss vom 22. November 2005
2 BvR 1090/05