BVerfG: Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen Aufnahme in Verfassungsschutzbericht

Die Beschwerdeführerin (Bf) ist Verlegerin und Herausgeberin der Wochenzeitung “Junge Freiheit”. Ihre
Verfassungsbeschwerde (Vb), mit der sie sich gegen die Aufnahme ihrer Wochenzeitung in die Verfassungsschutzberichte
des Landes Nordrhein-Westfalen der Jahre 1994 und 1995 wandte, war erfolgreich.
Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hob die angegriffenen Entscheidungen des Verwaltungsgerichts
(VG) und Oberverwaltungsgerichts (OVG) auf, da sie die Beschwerdeführerin (Bf) in
ihrem Grundrecht auf Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG) verletzen. Die Sache wurde an das VG
zurückverwiesen. Dieses hat unter Berücksichtigung der vom Senat dargestellten verfassungsrechtlichen
Anforderungen erneut zu prüfen, ob die tatsächlichen Anhaltspunkte für einen Verdacht verfassungsfeindlicher
Bestrebungen der Bf ausreichen. Insbesondere ist erneut zu bewerten, ob der Bf die in Artikeln
Dritter, die nicht der Redaktion angehören, veröffentlichten verfassungsfeindlichen Positionen zugerechnet
werden können.

Sachverhalt:

Das Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen gibt jährlich Verfassungsschutzberichte zur Information
der Öffentlichkeit heraus. Rechtsgrundlage ist § 15 Abs. 2 in Verbindung mit § 3 Abs. 1 des
Gesetzes über den Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen (VSG NRW). Diese Norm enthält eine
Ermächtigung zur Information der Öffentlichkeit in Verfassungsschutzberichten, um über verfassungsfeindliche
Bestrebungen und Tätigkeiten aufzuklären. In den Berichten über die Jahre 1994 und 1995
wurde die „Junge Freiheit„ im Rahmen der Berichterstattung über rechtsextremistische Bestrebungen
ausführlich behandelt. Die in ihr veröffentlichten Beiträge enthielten nach Einschätzung des Landes Anhaltspunkte
für den Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen. Zum Beleg greifen die Verfassungsschutzberichte
einzelne Artikel aus der “Jungen Freiheit” heraus, um auf dieser Grundlage ein Gesamturteil
über die Zeitung und die hinter ihr stehende Gruppierung zu begründen.

Das VG wies die von der Bf erhobene Klage unter anderem mit der Begründung ab, dass die Aufnahme
von Passagen über die “Junge Freiheit” in die Verfassungsschutzberichte den Schutzbereich der Pressefreiheit
nicht berühre. Mit der gleichen rechtlichen Begründung wies das OVG den Antrag auf Zulassung
der Berufung zurück. Die gegen die gerichtlichen Entscheidungen gerichtete Vb hatte Erfolg.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

1. Die Nennung der Wochenzeitung der Bf im Verfassungsschutzbericht berührt das Grundrecht der
Pressefreiheit. Durch die Erwähnung im Verfassungsschutzbericht wird die Bf zwar nicht gehindert, die
Zeitung weiter zu vertreiben und auch zukünftig Artikel wie die beanstandeten abzudrucken. Ihre Wirkungsmöglichkeiten
werden jedoch nachteilig beeinflusst. Potenzielle Leser können davon abgehalten
werden, die Zeitung zu erwerben, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass etwa Inserenten, Journalisten
oder Leserbriefschreiber die Erwähnung im Verfassungsschutzbericht zum Anlass nehmen, sich von der
Zeitung abzuwenden oder sie zu boykottieren. Dies kommt einem Eingriff in die Pressefreiheit gleich.

2. Ein Eingriff in die Pressefreiheit bedarf der Rechtfertigung durch ein allgemeines Gesetz (Art. 5
Abs. 2 GG). Ein solches Gesetz ist § 15 Abs. 2 VSG NRW. Bei der Nutzung der Ermächtigung des §
15 Abs. 2 VSG NRW zur Veröffentlichung von Informationen im Verfassungsschutzbericht ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
zu beachten. Um den Verdacht einer verfassungsfeindlichen Bestrebung zu
bejahen oder die negative Sanktion einer Veröffentlichung im Verfassungsschutzbericht zu ergreifen,
müssen hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen. Die bloße Kritik an Verfassungswerten
reicht nicht aus. Denn die Meinungs- und Pressefreiheit lässt auch eine kritische Auseinandersetzung
mit Verfassungsgrundsätzen zu. Lassen sich aber aus den Meinungsäußerungen Bestrebungen zur
Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ableiten, dürfen Maßnahmen zur Verteidigung
dieser Grundordnung ergriffen werden. Dabei können auch einzelne Zeitungsartikel zur Begründung
herangezogen werden, wenn sie aus sich heraus oder im Zusammenwirken mit anderen Befunden auf
verfassungsfeindliche Bestrebungen hindeuten. Auch Artikel, die die Mitglieder der Redaktion nicht
selbst verfasst haben, dürfen einbezogen werden. In diesem Fall bedarf es aber besonderer Anhaltspunkte,
warum aus den Artikeln von Dritten, die der Redaktion nicht angehören, entsprechende Bestrebungen
von Verlag und Redaktion abgeleitet werden können. Dies kann der Fall sein, wenn durch die redaktionelle Auswahl der von Dritten geschriebenen Veröffentlichungen verfassungsfeindliche Bestrebungen
von Verlag und Redaktion zum Ausdruck kommen.

3. Die Begründung der Fachgerichte, warum die zum Beleg herangezogenen Artikel Ausdruck der verfassungsfeindlichen
Bestrebungen von Verlag und Redaktion und nicht nur ihrer Autoren sein sollen, genügt
nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Die Gerichte sind irrig davon ausgegangen, die
„Junge Freiheit„ könne allein deshalb nicht als „Markt der Meinungen„ verstanden werden, weil sie nur
für ein bestimmtes politisches Spektrum offen stehe. Von der Pressefreiheit ist auch die Entscheidung
erfasst, ein Forum nur für ein bestimmtes politisches Spektrum zu bieten, dort aber den Autoren große
Freiräume zu gewähren und sich in der Folge nicht mit allen einzelnen Veröffentlichungen zu identifizieren.
Die Fachgerichte werden daher erneut bewerten müssen, ob die tatsächlichen Anhaltspunkte für einen
Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen der Bf auch unter Berücksichtigung dieser Grundsätze
ausreichen.

Ferner haben sie zu prüfen, ob die Art der Veröffentlichung den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes
entsprach. Obwohl die Behörde nur von Anhaltspunkten für einen Verdacht ausgegangen
ist, hat sie die Bf ohne jede Differenzierung in der Gliederung oder in den Überschriften des Berichts
auf die gleiche Stufe gestellt wie Gruppen, für die sie verfassungsfeindliche Bestrebungen festgestellt hat.
Es könnte ein milderes Mittel sein, durch die Gestaltung des Berichts eindeutig klar zu stellen, dass die
verfassungsfeindlichen Bestrebungen keineswegs festgestellt sind.

Beschluss vom 24. Mai 2005 – 1 BvR 1072/01 –

Karlsruhe, den 28. Juni 2005