BVerfG: Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen überlange Dauer eines sozialgerichtlichen Verfahrens

Das Bundesverfassungsgericht hat eine Verfassungsbeschwerde gegen die
überlange Dauer eines sozialgerichtlichen Verfahrens nicht zur
Entscheidung angenommen. Dies folgt aus einem Beschluss der 3. Kammer
des Ersten Senats vom 13. August 2012. In Anbetracht des Rechts der
Beschwerdeführerin auf effektiven Rechtsschutz begegnet zwar die
Untätigkeit des Sozialgerichts über einen Zeitraum von 30 Monaten
erheblichen Bedenken. Allerdings besteht mangels Wiederholungsgefahr
kein Rechtsschutzbedürfnis dafür, eine überlange Dauer des –
mittlerweile abgeschlossenen – Verfahrens durch das
Bundesverfassungsgericht feststellen zu lassen. Denn angesichts des Ende
2011 in Kraft getretenen Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen
Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren stehen
nunmehr Rechtsbehelfe innerhalb der Sozialgerichtsbarkeit zur Verfügung.

Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:

1. Zwar begegnet die Dauer des Verfahrens vor dem Sozialgericht mit
Blick auf Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG erheblichen Bedenken. Art. 19 Abs. 4
Satz 1 GG gewährleistet nicht nur das formelle Recht, die Gerichte gegen
Handlungen der öffentlichen Gewalt anzurufen, sondern auch die
Effektivität des Rechtsschutzes. Wirksamer Rechtsschutz bedeutet auch
Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit. Dem Grundgesetz lassen sich
keine allgemein gültigen Zeitvorgaben dafür entnehmen, wann von einer
unangemessenen Verfahrensdauer auszugehen ist. Vielmehr ist die
Angemessenheit nach den besonderen Umständen des einzelnen Falles zu
bestimmen. Dabei können insbesondere die Schwierigkeit der zu
entscheidenden Materie, die Notwendigkeit von Ermittlungen in
tatsächlicher Hinsicht, die Bedeutung des Verfahrens für die
Prozessbeteiligten sowie deren eigenes Prozessverhalten von Bedeutung
sein.

Vor diesem Hintergrund war die Dauer des Verfahrens vor dem
Sozialgericht nicht mehr angemessen. Insbesondere die Untätigkeit des
Sozialgerichts über einen Zeitraum von 30 Monaten ist mit Art. 19 Abs. 4
Satz 1 GG nicht vereinbar, sofern man den Umstand ausblendet, dass auch
die Beschwerdeführerin selbst das Verfahren in dieser Zeit nicht
betrieben hat. Zwar lässt sich der Verfassung keine konkrete Vorgabe
dafür entnehmen, innerhalb welchen Zeitraums nach Abschluss der
gerichtlichen Ermittlungen es zu einer mündlichen Verhandlung kommen
muss. Aber jedenfalls ein Abwarten von 30 Monaten genügt den
verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht.

Soweit die zuständige Landesjustizverwaltung in ihrer Stellungnahme
gegenüber dem Bundesverfassungsgericht auf die knappe personelle
Ausstattung des Sozialgerichts verweist, führt dies zu keiner anderen
Beurteilung. Es obliegt den Ländern, in ihrem Zuständigkeitsbereich für
eine hinreichende materielle und personelle Ausstattung der Gerichte zu
sorgen, damit diese ihrem Rechtsprechungsauftrag in einer Weise
nachkommen können, die den Anforderungen des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG
genügt.

2. Gleichwohl ist die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung
anzunehmen. Das fachgerichtliche Verfahren ist inzwischen abgeschlossen.
Daher hat die Beschwerdeführerin kein Rechtsschutzbedürfnis mehr für ihr
Ziel, durch das Bundesverfassungsgericht eine überlange Verfahrensdauer
feststellen zu lassen. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht unter der
früheren Rechtslage ein fortbestehendes Rechtsschutzbedürfnis wegen
Wiederholungsgefahr unter bestimmten Voraussetzungen anerkannt. Jedoch
ist am 3. Dezember 2011 das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen
Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren in Kraft
getreten. Dadurch stehen – auch im sozialgerichtlichen Verfahren –
fachgerichtliche Rechtsbehelfe gegen überlange Gerichtsverfahren zur
Verfügung (§ 202 Satz 2 SGG in Verbindung mit §§ 198 ff. GVG). Diese
schließen den Fortbestand einer Wiederholungsgefahr aus.

Pressemitteilung Nr. 73/2012 vom 16. Oktober 2012
Beschluss vom 13. August 2012
1 BvR 1098/11