1. Im Zusammenhang mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik sind verschiedene Regelungen über die Rückgabe von in der DDR entzogenen Vermögenswerten und über die
ersatzweise zu gewährende Entschädigung getroffen worden. § 1 Vermögensgesetz (VermG) regelt, in welchen Fällen grundsätzlich ein Anspruch auf Rückübertragung
besteht. Ist diese aus bestimmten, gesetzlich geregelten Gründen nicht möglich, bestimmt das EntschG, unter welchen Voraussetzungen dem Berechtigten Entschädigung zu
gewähren ist. Beide Normen sind auszugsweise im Anhang abgedruckt. § 1 Abs. 2 VermG schafft den Anspruch auf Rückübertragung für bebaute Grundstücke und Gebäude, die
auf Grund nicht kostendeckender Mieten und in Folge dessen eingetretener oder unmittelbar bevorstehender Überschuldung einerseits durch Enteignung und andererseits
durch Eigentumsverzicht, Schenkung oder Erbausschlagung in Volkseigentum übernommen wurden. Entschädigung – soweit die Rückübertragung nicht möglich ist – steht nach §
1 Abs. 3 EntschG aber für Grundstücke, die durch Eigentumsverzicht, Schenkung oder Erbausschlagung und nicht durch Enteignung in Volkseigentum übernommen wurden, den
früheren Eigentümern nicht zu. Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hat die Frage, ob diese Regelung des EntschG mit dem Grundgesetz vereinbar ist, dem BVerfG zur
Entscheidung vorgelegt.
2. Der Erste Senat des BVerfG hat nunmehr festgestellt, dass die zur Prüfung vorgelegte Norm mit dem allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren
ist. Die in § 1 Abs. 2 VermG umschriebene Gruppe von Hauseigentümern, die nicht durch Enteignung, sondern durch Eigentumsverzicht, Schenkung oder Erbausschlagung ihres
Eigentums verlustig gingen, wird durch die Verweigerung von Entschädigung sowohl gegenüber vergleichbaren Hauseigentümern, die auf Grund der Überschuldung
enteignet wurden, als auch gegenüber den übrigen in § 1 VermG genannten Gruppen schlechter gestellt. Alle diese Berechtigen haben zwar nach dem VermG Anspruch auf
Rückübertragung ihrer Grundstücke. Ist eine solche jedoch nicht möglich, ist lediglich die Gruppe der durch Eigentumsverzicht etc. “entreicherten”
Grundstückseigentümer von einer Entschädigung ausgeschlossen. Für diese Differenzierung besteht kein hinreichender Grund. Sinn des § 1 Abs. 2 VermG ist u.a. die
Wiedergutmachung erlittener Vermögensschäden. Nach der Grundentscheidung des Gesetzgebers sollte diese Wiedergutmachung nicht nur den auf Grund der Überschuldung
ihres Mietshauses formell enteigneten Grundstückseigentümern zugute kommen. Vielmehr sollten auch die Opfer “kalter Enteignungen”, die ebenfalls auf Grund des in der DDR
herrschenden Mietpreisbindungssystems keine kostendeckenden Mieten erzielen konnten, in den Genuss der Rückübertragung gelangen. Ausgehend von dieser Entscheidung des
Gesetzgebers ist es systemwidrig, dieser Gruppe für den Fall, dass eine Rückgabe des Eigentums unmöglich ist, keine Entschädigung zuzugestehen. Ein sachlicher
Rechtfertigungsgrund für diese Unterscheidung besteht nicht. Insbesondere kann ein solcher nicht darin gesehen werden, dass Eigentumsverzicht, Erbausschlagung oder
Schenkung im Gegensatz zur Enteignung auf der eigenen Entscheidung der Betroffenen beruht hätten. Einerseits kann von einer wirklich eigenen Entscheidung der Betroffenen
angesichts der ökonomischen Zwangssituation, in der sie sich bei Überschuldung befanden, nicht die Rede sein. Andererseits umfassen die Schädigungstatbestände des
§ 1 Abs. 1 und 3 VermG ebenfalls Sachverhalte, bei denen es im Rahmen rechtsgeschäftlicher Veräußerung unter Druck und Zwang zu Eigentumsverlusten auf Grund
“eigener Entscheidung” des Berechtigten kam, ohne dass für diese Gruppen die Entschädigung ebenfalls ausgeschlossen wäre. Gleichermaßen ist die Bewertung, bei
Eigentumsverlust wegen überschuldeter Mietshäuser handele es sich nicht um gezielte Unrechtsmaßnahmen, sondern gewissermaßen um Systemunrecht, keine
Rechtfertigung für einen unterschiedlichen Umfang der Wiedergutmachung. Andere Eigentumsverluste auf Grund “Systemunrechts” werden ebenfalls entschädigt, wie § 1 Abs. 1
Buchstabe d VermG in Verbindung mit § 1 Abs. 1 Satz 1 EntschG zeigt. Auch gegenüber den wegen der Überschuldung ihrer Mietshäuser formell Enteigneten bestehen
keine derart gewichtigen Unterschiede, dass eine unterschiedliche Behandlung hinsichtlich der Entschädigung gerechtfertigt wäre. Bereits in der Gemeinsamen Erklärung der
beiden deutschen Regierungen zur Regelung offener Vermögensfragen von 1990 ist für die Rückgabe der Mietshausgrundstücke kein Unterschied zwischen den Enteignungsfällen
und den anderen heute in § 1 Abs. 3 EntschG geregelten Fällen gemacht worden. Der in dieser Erklärung verwendete Begriff des “ökonomischen Zwangs” erfasste die
Überschuldung als Ursache für alle Vorgänge, die zur Übernahme in Volkseigentum führten. Unterschiede zwischen der “kalten Enteignung” und der förmlichen
Enteignung hinsichtlich des Gewichts des diskriminierenden Unrechts sind nicht zu erkennen. Schließlich kann der Entschädigungsausschluss der auf kaltem Wege
Enteigneten auch nicht damit gerechtfertigt werden, dass ansonsten die Eigentümer vergleichbarer Grundstücke, die ihr Eigentum trotz Überschuldung behalten haben
und nach der Wiedervereinigung für ihre “heruntergekommenen” Objekte eine Entschädigung nicht erhalten können, benachteiligt würden. Eine Gleichbehandlung dieser beiden
Gruppen ist von Verfassungs wegen nicht geboten. Die Aufgabe des Eigentums an Mietshausgrundstücken im Wege des Verzichts, der Schenkung oder der Erbausschlagung wegen
ökonomischen Zwangs einerseits und das Festhalten an diesem Eigentum trotz gleicher Rahmenbedingungen andererseits sind Sachverhalte, die sich so grundlegend voneinander
unterscheiden, dass sie verfassungsrechtlich nicht gleichbehandelt werden müssen. Abgesehen davon ist der Gesetzgeber verfassungsrechtlich ohnehin nicht verpflichtet, alle
Nachteile auszugleichen, die die Menschen unter der Herrschaft der DDR in den unterschiedlichsten Lebensbereichen hinnehmen mussten.
Die zur Prüfung gestellte Norm ist nicht nur für mit dem Grundgesetz unvereinbar, sondern für nichtig zu erklären. Eine bloße Unvereinbarkeitserklärung, wie sie
bei Verstößen gegen Art. 3 Abs. 1 GG regelmäßig angebracht ist, kommt hier nicht in Betracht. Sie würde voraussetzen, dass dem Gesetzgeber mehrere
Möglichkeiten zur Verfügung stehen, eine verfassungsgemäße Neuregelung zu treffen. Daran aber fehlt es. Gleichheit kann nur dadurch hergestellt werden, dass
diejenigen, die nach § 1 Abs. 3 EntschG derzeit von der Gewährung einer Entschädigung ausgenommen sind, in den Anwendungsbereich des § 1 Abs. 1 Satz 1 EntschG einbezogen
werden. Würde man nämlich Gleichheit dadurch herzustellen versuchen, dass auch die bisher Entschädigungsberechtigten im Sinne des § 1 VermG von einer Entschädigung nach
dem EntschG ausgeschlossen würden, wäre der Kreis der Entschädigungsberechtigten so klein, dass das Gesetz in erheblichem Umfang leer laufen würde. Unanfechtbar
gewordene Entscheidungen, mit denen eine Entschädigung im Hinblick auf § 1 Abs. 3 EntschG abgelehnt wurde, bleiben unberührt, sofern der Gesetzgeber nichts anderes
bestimmt.
Beschluss vom 10. Oktober 2001 – Az. 1 BvL 17/00 –
Karlsruhe, den 5. Dezember 2001