Für den Einsatz deutscher Soldaten in AWACS-Flugzeugen der NATO zur
Luftraumüberwachung über dem Hoheitsgebiet der Türkei im Frühjahr 2003
hätte die Bundesregierung die Zustimmung des Deutschen Bundestags
einholen müssen. Dies entschied der Zweite Senat des
Bundesverfassungsgerichts mit Urteil vom 7. Mai 2008. Der
wehrverfassungsrechtliche Parlamentsvorbehalt für den Einsatz
bewaffneter Streitkräfte greift ein, wenn nach dem jeweiligen
Einsatzzusammenhang und den einzelnen rechtlichen und tatsächlichen
Umständen die Einbeziehung deutscher Soldaten in bewaffnete
Auseinandersetzungen konkret zu erwarten ist. Diese Voraussetzungen
lagen hier vor. Mit der Luftraumüberwachung der Türkei in AWACS-
Flugzeugen der NATO haben sich deutsche Soldaten an einem Militäreinsatz
beteiligt, bei dem greifbare tatsächliche Anhaltspunkte für eine
drohende Verstrickung in bewaffnete Auseinandersetzungen bestanden.
(Zum Sachverhalt vgl. Pressemitteilung Nr. 4 vom 21. Januar 2008)
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
1. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 12. Juli 1994
§§ aus dem Gesamtzusammenhang wehrverfassungsrechtlicher Vorschriften
§§ des Grundgesetzes und vor dem Hintergrund der deutschen
§§ Verfassungstradition dem Grundgesetz ein allgemeines Prinzip
§§ entnommen, nach dem jeder Einsatz bewaffneter Streitkräfte der
§§ konstitutiven, grundsätzlich vorherigen Zustimmung des Deutschen
§§ Bundestags bedarf. Die in Art. 24 Abs. 2 GG enthaltene Ermächtigung
§§ zur Einordnung in ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit
§§ bildet danach die verfassungsrechtliche Grundlage für die Beteiligung
§§ der Bundeswehr an Einsätzen außerhalb des Bundesgebiets, soweit diese
§§ im Rahmen und nach den Regeln eines solchen Systems erfolgen. Der
§§ Deutsche Bundestag muss nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG der
§§ Vertragsgrundlage eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit
§§ zustimmen. Die Konkretisierung des Vertrags, die Ausfüllung des mit
§§ ihm niedergelegten Integrationsprogramms ist dagegen Aufgabe der
§§ Bundesregierung. Die deutsche Mitwirkung an der strategischen
§§ Gesamtausrichtung und an der Willensbildung über konkrete Einsätze
§§ des Bündnisses liegt damit ganz überwiegend in den Händen der
§§ Bundesregierung.
2. Die bündnispolitische Gestaltungsfreiheit der Bundesregierung
§§ schließt aber nicht die Entscheidung ein, wer innerstaatlich darüber
§§ zu befinden hat, ob sich Soldaten der Bundeswehr an einem konkreten
§§ Einsatz beteiligen, der im Bündnis beschlossen wurde. Wegen der
§§ politischen Dynamik eines Bündnissystems ist es umso bedeutsamer,
§§ dass die größer gewordene Verantwortung für den Einsatz bewaffneter
§§ Streitkräfte in der Hand des Repräsentationsorgans des Volkes liegt.
§§ Der wehrverfassungsrechtliche Parlamentsvorbehalt stellt insoweit ein
§§ wesentliches Korrektiv für die Grenzen der parlamentarischen
§§ Verantwortungsübernahme im Bereich der auswärtigen Sicherheitspolitik
§§ dar. Der Deutsche Bundestag ist bei Einsatz bewaffneter Streitkräfte
§§ zur grundlegenden, konstitutiven Entscheidung berufen, ihm obliegt
§§ die Verantwortung für den bewaffneten Außeneinsatz der Bundeswehr.
§§ Angesichts der Funktion und Bedeutung des wehrverfassungsrechtlichen
§§ Parlamentsvorbehalts darf seine Reichweite nicht restriktiv bestimmt
§§ werden. Vielmehr ist der Parlamentsvorbehalt im Zweifel
§§ parlamentsfreundlich auszulegen. Wenn und soweit dem Grundgesetz eine
§§ Zuständigkeit des Deutschen Bundestags in Form eines
§§ wehrverfassungsrechtlichen Mitentscheidungsrechts entnommen werden
§§ kann, besteht gerade kein eigenverantwortlicher Entscheidungsraum der
§§ Bundesregierung. Der Parlamentsvorbehalt ist Teil des Bauprinzips der
§§ Gewaltenteilung, nicht seine Durchbrechung.
3. Ein unter dem Grundgesetz nur auf der Grundlage einer konstitutiven
§§ Zustimmung des Deutschen Bundestags zulässiger Einsatz bewaffneter
§§ Streitkräfte liegt vor, wenn deutsche Soldaten in bewaffnete
§§ Unternehmungen einbezogen sind. Für den wehrverfassungsrechtlichen
§§ Parlamentsvorbehalt kommt es nicht darauf an, ob bewaffnete
§§ Auseinandersetzungen sich schon im Sinne eines Kampfgeschehens
§§ verwirklicht haben, sondern darauf, ob nach dem jeweiligen
§§ Einsatzzusammenhang und den einzelnen rechtlichen und tatsächlichen
§§ Umständen die Einbeziehung deutscher Soldaten in bewaffnete
§§ Auseinandersetzungen konkret zu erwarten ist. Die bloße Möglichkeit,
§§ dass es bei einem Einsatz zu bewaffneten Auseinandersetzungen kommt,
§§ reicht hierfür nicht aus. Erst die qualifizierte Erwartung einer
§§ Einbeziehung in bewaffnete Auseinandersetzungen führt zur
§§ parlamentarischen Zustimmungsbedürftigkeit eines Auslandseinsatzes
§§ deutscher Soldaten. Hierfür bedarf es zum einen hinreichender
§§ greifbarer tatsächlicher Anhaltspunkte, dass ein Einsatz nach seinem
§§ Zweck, den konkreten politischen und militärischen Umständen sowie
§§ den Einsatzbefugnissen in die Anwendung von Waffengewalt münden kann.
§§ Zum anderen bedarf es einer besonderen Nähe der Anwendung von
§§ Waffengewalt. Danach muss die Einbeziehung unmittelbar zu erwarten
§§ sein. Ein Anhaltspunkt für die drohende Einbeziehung deutscher
§§ Soldaten in bewaffnete Auseinandersetzungen besteht, wenn sie im
§§ Ausland Waffen mit sich führen und ermächtigt sind, von ihnen
§§ Gebrauch zu machen.
§
§§ Die Frage, ob eine Einbeziehung deutscher Soldaten in bewaffnete
§§ Unternehmungen besteht, ist gerichtlich voll überprüfbar. Ein vom
§§ Bundesverfassungsgericht nicht oder nur eingeschränkt nachprüfbarer
§§ Einschätzungs- oder Prognosespielraum ist der Bundesregierung hier
§§ nicht eröffnet.
§
4. Nach diesem Maßstab war die Beteiligung deutscher Soldaten an der
§§ Luftraumüberwachung der Türkei durch die NATO vom 26. Februar bis zum
§§ 17 April 2003 ein Einsatz bewaffneter Streitkräfte, der nach dem
§§ wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt der Zustimmung des
§§ Deutschen Bundestags bedurfte. Mit der Luftraumüberwachung der Türkei
§§ in AWACS-Flugzeugen der NATO haben sich deutsche Soldaten an einem
§§ Militäreinsatz beteiligt, bei dem greifbare tatsächliche
§§ Anhaltspunkte für eine drohende Verstrickung in bewaffnete
§§ Auseinandersetzungen bestanden. Die eingesetzten AWACS-
§§ Aufklärungsflugzeuge waren Teil eines Systems konkreter militärischer
§§ Schutzmaßnahmen gegen einen befürchteten Angriff auf das
§§ Bündnisgebiet der NATO. Die Überwachung des türkischen Luftraums
§§ hatte von Beginn an einen spezifischen Bezug zu einer aufgrund
§§ konkreter Umstände für möglich gehaltenen militärischen
§§ Auseinandersetzung mit dem Irak. Auf eine solche Auseinandersetzung
§§ hatte sich die NATO spätestens ab dem 18. März 2003 ernsthaft
§§ eingestellt, weil der Beginn der Kampfhandlungen im Irak allgemein
§§ erwartet wurde. Es bestand ersichtlich mehr als eine lediglich
§§ abstrakte Möglichkeit bewaffneter Auseinandersetzungen. Es lagen
§§ vielmehr greifbare tatsächliche Anhaltspunkte vor, nach denen die
§§ Verwicklung der NATO in eine militärische Auseinandersetzung zu
§§ erwarten war.
§
§§ Eine Einbeziehung deutscher Soldaten in bewaffnete
§§ Auseinandersetzungen war auch unmittelbar zu erwarten. Spätestens mit
§§ den aufgrund der Lageverschlechterung erweiterten Einsatzregeln hing
§§ die Einbeziehung deutscher Soldaten in bewaffnete
§§ Auseinandersetzungen nur noch davon ab, ob und wann der Irak einen
§§ Angriff auf die Türkei unternehmen würde.
Pressemitteilung Nr. 52/2008 vom 7. Mai 2008
Urteil vom 7. Mai 2008 – 2 BvE 1/03 –