Auch im Eilrechtsschutzverfahren muss sich die verwaltungsgerichtliche
Prüfung, ob die Dauerobservation eines aus der Sicherungsverwahrung
entlassenen Mannes rechtmäßig ist, auf hinreichend aktuelle
Tatsachengrundlagen zur Einschätzung seiner Gefährlichkeit stützen. Dies
hat das Bundesverfassungsgericht in einem heute veröffentlichten
Beschluss entschieden und den Fall daher an das Verwaltungsgericht
Freiburg zurückverwiesen. Nicht beanstandet hat die 1. Kammer des Ersten
Senats, dass die Verwaltungsgerichte die polizeirechtliche
Generalklausel im Eilrechtsschutzverfahren noch als ausreichende
Rechtsgrundlage für die Dauerobservation des Beschwerdeführers angesehen
haben. Die Generalklausel kann den Behörden ermöglichen, auf
unvorhergesehene Gefahrensituationen auch mit im Grunde genommen näher
regelungsbedürftigen Maßnahmen vorläufig zu reagieren. Das Schließen
etwaiger Regelungslücken liegt in der Verantwortung des Gesetzgebers.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:
1. Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen Entscheidungen im
verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutzverfahren über die
längerfristige Observation des aus der Sicherungsverwahrung entlassenen
Beschwerdeführers.
a) Das Landgericht S. hatte den Beschwerdeführer im Jahre 1985 wegen
zwei Vergewaltigungen zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren mit
anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Mit Beschluss vom 10.
September 2010 erklärte das Oberlandesgericht K. – im Anschluss an die
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – die
Sicherungsverwahrung für erledigt. Mit der Entlassung des
Beschwerdeführers aus der Sicherungsverwahrung hat die Polizeidirektion
Freiburg die längerfristige Observation des Beschwerdeführers zunächst
für die Dauer von vier Wochen angeordnet und diese Anordnung seither
regelmäßig, das heißt seit nunmehr länger als zwei Jahren, verlängert.
b) Nach seinen im Ausgangsverfahren unwidersprochen gebliebenen Angaben
bewohnt der Beschwerdeführer ein Zimmer in einer in einem Hinterhaus
gelegenen Unterkunft. Im Hof vor diesem Hinterhaus parkt ständig ein
Polizeifahrzeug, in dem sich drei Polizeibeamte aufhalten. Zwei weitere
Beamte halten sich in der Küche der Unterkunft auf, wenn sich der
Beschwerdeführer in seinem Zimmer befindet. Eine direkte Beobachtung des
Beschwerdeführers in seinem eigentlichen Wohnraum findet nicht statt.
Außerhalb seiner Wohnung begleiten ständig Polizisten den
Beschwerdeführer. Bei Gesprächen des Beschwerdeführers mit Ärzten,
Rechtsanwälten und Bediensteten von Behörden sind die Beamten
angewiesen, Abstand zu halten. Nimmt der Beschwerdeführer ansonsten
Kontakt zu Frauen auf, weisen die Polizisten sie mit einer sogenannten
Gefährdetenansprache auf den Grund der Observation hin.
c) Einen Antrag des Beschwerdeführers, seine Observation im Wege der
einstweiligen Anordnung zu unterbinden, lehnte das Verwaltungsgericht
Freiburg mit Beschluss vom 16. August 2011 ab. Die hiergegen gerichtete
Beschwerde wies der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg mit
Beschluss vom 8. November 2011 zurück.
2. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde gegen diese beiden
Beschlüsse zur Entscheidungen an und gibt ihnen statt.
a) Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen
verfassungsrechtlichen Grundsätze hat das Bundesverfassungsgericht
bereits entwickelt: Die Gerichte sind gehalten, vorläufigen Rechtsschutz
zu gewähren, wenn sonst dem Antragsteller eine erhebliche, über
Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Rechten droht, die durch
die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, es
sei denn, dass ausnahmsweise überwiegende, besonders wichtige Gründe
entgegenstehen. Dann muss die Prüfung eingehend genug sein, um den
Antragsteller vor erheblichen und unzumutbaren, anders weder abwendbaren
noch reparablen Nachteilen effektiv zu schützen. Bei solchen Nachteilen
können sich die Gerichte nur insoweit auf eine ansonsten ausreichende
summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage beschränken, als dies durch
besondere Gründe auch angesichts der in Frage stehenden Nachteile
gerechtfertigt ist; außerdem müssen sie Fragen des Grundrechtsschutzes
einbeziehen.
b) Diesen Anforderungen entsprechen die Entscheidungen im
Ausgangsverfahren nicht in jeder Hinsicht. Zunächst haben die
Verwaltungsgerichte richtigerweise erkannt, dass die dauernde
Observation des Beschwerdeführers einen schwerwiegenden
Grundrechtseingriff darstellt. Jedoch haben sie das besondere
grundrechtliche Gewicht des Begehrens des Beschwerdeführers nicht
ausreichend gewürdigt.
aa) Nicht zu beanstanden ist es allerdings, dass die Verwaltungsgerichte
für das Eilrechtsschutzverfahren die polizeiliche Generalklausel im
baden-württembergischen Polizeirecht als noch ausreichende
Rechtsgrundlage für die dauerhafte Observation des Beschwerdeführers
angesehen haben. Zwar ist es zweifelhaft, ob die geltende Rechtslage
hinreichend differenzierte Rechtsgrundlagen enthält, die die
Durchführung solcher Observationen auf Dauer tragen können. Vielmehr
handelt es sich wohl um eine neue Form einer polizeilichen Maßnahme, die
bisher vom Landesgesetzgeber nicht eigens erfasst worden ist und
aufgrund ihrer weitreichenden Folgen möglicherweise einer
ausdrücklichen, detaillierten Ermächtigungsgrundlage bedarf. Es begegnet
jedoch keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn die
Gerichte angesichts des Gewichts der in Frage stehenden Rechtsgüter die
vorhandene Grundlage im vorläufigen Rechtsschutzverfahren als noch
tragfähig ansehen und die Frage der Rechtsgrundlage erst im
Hauptsacheverfahren einer abschließenden Klärung zuführen. Der Sache
nach verstehen sie damit die polizeiliche Generalklausel dahingehend,
dass sie es den Behörden ermöglicht, auf unvorhergesehene
Gefahrensituationen auch mit im Grunde genommen näher
regelungsbedürftigen Maßnahmen vorläufig zu reagieren, und ermöglichen
so dem Gesetzgeber, eventuelle Regelungslücken zu schließen. Dies ist –
bei Beachtung strenger Verhältnismäßigkeitsanforderungen –
verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Es liegt dann in der
Verantwortung des Gesetzgebers hierauf zu reagieren oder in Kauf zu
nehmen, dass solche Maßnahmen von den Gerichten auf Dauer als von der
geltenden Rechtslage nicht als gedeckt angesehen werden.
bb) Die angegriffenen Entscheidungen genügen jedoch aus einem anderen
Grund nicht den Voraussetzungen für die gebotene Prüfungsintensität im
Bereich des grundrechtsrelevanten einstweiligen Rechtsschutzes. Die
Gerichte haben ihre Entscheidung maßgeblich auf ein psychiatrisches
Gutachten vom 5. März 2010 gestützt. Die Begutachtung erfolgte zu einem
Zeitpunkt, als der Beschwerdeführer sich noch in Sicherungsverwahrung
befand. Der Gutachter konnte allenfalls vermuten, wie der
Beschwerdeführer sich nach Jahrzehnten der Haft und der
Sicherungsverwahrung in Freiheit verhalten würde. Nunmehr lebt der
Beschwerdeführer aber seit geraumer Zeit unter vollständig veränderten
Umständen, die es nicht angezeigt erscheinen lassen, eine so
weitreichende Entscheidung wie die über die Fortsetzung einer fast
durchgehenden polizeilichen Beobachtung auf veraltete Vermutungen zu
stützen.
Zum Hintergrund:
Die Polizeigesetze der Länder enthalten jeweils eine sogenannte
Generalklausel (wie zum Beispiel § 1 in Verbindung mit § 3 des
baden-württembergischen Polizeigesetzes). Sie regelt die Befugnisse der
Polizeibehörden nur allgemein und in sehr offen formulierter Weise:
Danach können diese zur Abwehr von Gefahren für die öffentliche
Sicherheit oder Ordnung diejenigen Maßnahmen treffen, die ihnen nach
pflichtgemäßem Ermessen erforderlich erscheinen. Wegen der
Unbestimmtheit und Offenheit dieser Klausel dürfen auf sie normalerweise
nur Maßnahmen gestützt werden, die kein großes Eingriffsgewicht haben.
Für besonders schwere Grundrechtseingriffe wie z. B. eine
Wohnungsdurchsuchung oder eine Ingewahrsamnahme braucht die Polizei
grundsätzlich spezielle Befugnisnormen, die die genauen Voraussetzungen
und Bedingungen detailliert regeln und damit solche Maßnahmen näher
begrenzen (z. B. durch besondere Anforderungen an die Dringlichkeit der
Gefahr, an die Art der Gefahr – etwa das Erfordernis einer Leib- oder
Lebensgefahr – oder an das Verfahren – etwa das Erfordernis einer
vorherigen richterlichen Entscheidung -). Das baden-württembergische
Polizeirecht kennt eine Rechtsgrundlage, die ausdrücklich auf die
längerfristige Observation von gefährlichen Personen zum Schutz Dritter
bezogen ist, nicht. Ob und wieweit die bestehenden Rechtsgrundlagen
hierfür ausreichen, haben die Verwaltungsgerichte bisher noch nicht
abschließend geklärt.
Pressemitteilung Nr. 82/2012 vom 4. Dezember 2012
Beschluss vom 8. November 2012
1 BvR 22/12