BVerfG: Beitragsverpflichtung zur berufsständischen Anwaltsversorgung während einkommensloser Kindererziehungszeiten verfassungswidrig

Die Beitragsregelung der Satzung des Versorgungswerks der Rechtsanwälte in Baden-Württemberg, die
zur Beitragsleistung auch bei Einkommenslosigkeit während der Zeiten der Erziehung eines Kindes in
dessen ersten drei Lebensjahren verpflichtet, verstößt gegen das Gleichberechtigungsgebot (Art. 3
Abs. 2 GG). Sie führt zu einer unzulässigen faktischen Benachteiligung von Frauen gegenüber Männern.
Die Regelung kann jedoch bis zum In-Kraft-Treten einer verfassungsrechtlichen Neuregelung, längstens
bis zum 30. Juni 2006, weiter angewendet werden. Der notwendigen Neuregelung ist rückwirkende
Geltung zugunsten solcher Mitglieder beizulegen, die – wie die Beschwerdeführerin – ihre Beitragsverpflichtung
angefochten haben. Dies entschied der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts. Damit
hatte die Verfassungsbeschwerde einer Rechtsanwältin aus Baden-Württemberg weitgehend Erfolg. Diese hatte im verwaltungsgerichtlichen Verfahren erfolglos die beitragsfreie Mitgliedschaft im Versorgungswerk
für die Zeit ihres dreijährigen Kindererziehungsurlaubs beantragt.

Rechtlicher Hintergrund:

Das Rechtsanwaltsversorgungsgesetz Baden-Württemberg bestimmt die Errichtung eines berufsständischen
Versorgungswerks der Rechtsanwälte in Baden-Württemberg. Die Leistungen des Versorgungswerks
bestehen insbesondere in der Gewährung von Alters- und Berufsunfähigkeitsrenten. Für Mitglieder
einer Rechtsanwaltskammer in Baden-Württemberg besteht eine Pflichtmitgliedschaft im Versorgungswerk.
Der monatliche Pflichtbeitrag richtet sich nach der Satzung des Versorgungswerks. Danach
führt das Fehlen von Einkommen lediglich zu einer verminderten Beitragshöhe. Eine Regelung, die eine
Freistellung von der Beitragsverpflichtung für den Fall ermöglicht, dass ein Mitglied wegen der von ihm
übernommenen Kindererziehung über kein Einkommen verfügt, enthält die Satzung nicht.

Der Entscheidung des BVerfG liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Die Beitragsregelung in der Satzung des Versorgungswerks hat eine faktische Benachteiligung von Frauen
gegenüber Männern zur Folge. Das ist mit dem Gleichberechtigungsgebot nicht zu vereinbaren; denn
die Gleichberechtigung wird auch durch Regelungen gehindert, die zwar geschlechtsneutral formuliert
sind, im Ergebnis aber aufgrund natürlicher Unterschiede oder der gesellschaftlichen Bedingungen überwiegend
Frauen betreffen.

Das Fehlen von Einkommen während der Kindererziehungszeiten führt lediglich dazu, dass nur der Mindestbeitrag
zu leisten ist. Aber auch eine nur in Höhe des Mindestbeitrages fortbestehende Verpflichtung
bedeutet für eine junge Familie und erst recht für Alleinerziehende im Regelfall eine erhebliche finanzielle
Belastung. Die Alternative, durch Verzicht auf eine Zulassung zur Rechtsanwaltschaft aus dem Versorgungswerk
auszuscheiden und sich hierdurch der Beitragsverpflichtung zu entziehen, ist ebenfalls mit erheblichen
Nachteilen verbunden. Denn wird der Kindererziehende berufsunfähig, hat er keinen Anspruch
auf Berufsunfähigkeitsrente, da er nicht mehr Mitglied des Versorgungswerks ist. Darüber hinaus kann
sich die Aufgabe des Anwaltsstatus auch auf die berufliche Entwicklung der Kindererziehenden nachteilig
auswirken. Die dargestellten Nachteile treffen in der sozialen Wirklichkeit vor allem Frauen, da im Allgemeinen
noch immer Frauen die Kindererziehung übernehmen.

Die durch die Satzung bewirkte faktische Benachteiligung von Frauen ist nicht zulässig. Die mittelbare
Benachteiligung von Rechtsanwältinnen ist nicht dadurch gerechtfertigt, dass das Versorgungswerk –
anders als die gesetzliche Rentenversicherung – keine Bundeszuschüsse zur Finanzierung von Kindererziehungszeiten
erhält. Dass berufsständische Versorgungswerke wegen der Zahlungsausfälle durch die
Beitragsfreistellung nicht auf Bundeszuschüsse angewiesen sind, wird bereits durch die finanzielle Stabilität
der zahlreichen Versorgungswerke belegt, die eine beitragsfreie Mitgliedschaft ermöglichen (z.B.
Bayern, Saarland, Berlin, Hamburg). Die Benachteiligung wird auch nicht durch höhere Leistungen des
Versorgungswerks ausgeglichen. Es ist zwar grundsätzlich möglich, Nachteile, die sich durch die Ausgestaltung
von Beitragssätzen ergeben, durch Vorteile bei der Leistungsgewährung zu kompensieren.
Dies ist vorliegend jedoch nicht geschehen. Schließlich ist die Benachteiligung von Frauen im Versorgungswerk
auch nicht deshalb gerechtfertigt, weil ihnen mit der gesetzlichen Rentenversicherung ein Versorgungssystem
zur Verfügung steht, das Kindererziehungszeiten als Beitragszeiten anerkennt. Eröffnet
die Rechtsordnung unter der Voraussetzung gleichwertigen Schutzes die Wahl zwischen verschiedenen Zweigen des Alterssicherungssystems, so kann eine Benachteiligung in einem Bereich nicht durch benachteiligungsfreie
Regelungen in einem anderen Bereich gerechtfertigt sein.

Beschluss vom 5. April 2005 – 1 BvR 774/02 –

Karlsruhe, den 22. Juni 2005