BVerfG: Beitragssatzsicherungsgesetz mit Grundgesetz vereinbar

Der auf Überprüfung des Beitragssatzsicherungsgesetzes gerichtete
Normenkontrollantrag der Länder Baden-Württemberg und Saarland blieb
ohne Erfolg. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts stellte
fest, dass das Beitragssatzsicherungsgesetz mit dem Grundgesetz
vereinbar ist. Das Gesetz habe nicht der Zustimmung des Bundesrates
bedurft; seine Bestimmungen verletzten auch keine Grundrechte,
insbesondere nicht Art. 12 Abs. 1 GG (Berufsfreiheit).

Für die Gesetzgebungspraxis ist dieser Beschluss von besonderer
Bedeutung, weil er die Voraussetzungen festlegt, unter denen von der
Regierung erlassene Rechtsverordnungen durch vom Parlament beschlossene
Gesetze geändert werden dürfen (dazu unten II.). Diese in Rechtswissenschaft und Rechtsprechung umstrittene Frage ist nun vom
Bundesverfassungsgericht verbindlich beantwortet worden. Die Richterin
Osterloh und der Richter Gerhardt haben hierzu der Entscheidung eine
abweichende Meinung beigefügt. Im Ergebnis tragen sie die Entscheidung
jedoch mit.

Rechtlicher Hintergrund:

Das im Dezember 2002 verabschiedete Beitragssatzsicherungsgesetz
(BSSichG) sollte als so genanntes Vorschaltgesetz vor einer umfassenden
Reform die finanzielle Basis der gesetzlichen Kranken- und
Rentenversicherung stärken, das Beitragssatzniveau für das Jahr 2003
stabilisieren und der gesetzlichen Krankenversicherung finanziellen
Spielraum für strukturelle Reformmaßnahmen verschaffen. Zur Senkung der
Arzneimittelausgaben und zur finanziellen Entlastung der gesetzlichen
Krankenversicherung wurde eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, darunter
Rabattverpflichtungen der Apotheker, Großhändler und pharmazeutischen
Hersteller zu Gunsten der Krankenkassen, Preissenkungen und Nullrunden
zu Lasten der Zahntechniker, Ärzte und Krankenhäuser und die Ausweitung
der Versicherungspflicht auf Einkommensgruppen, in denen bislang eine
private Krankenversicherung zulässig war. Das BSSichG sah dazu eine
Reihe von Gesetzesänderungen und –ergänzungen, vor allem im
Sozialgesetzbuch V (SGB V), vor; gleichzeitig wurde die Bundespflegesatzverordnung geändert.

Die Antragstellerinnen halten das Beitragssatzsicherungsgesetz für
verfassungswidrig, weil der Bundesrat dem Gesetz hätte zustimmen müssen.
Außerdem verletze es pharmazeutische Großhändler und Apotheker in ihren
Grundrechten aus Art. 12 Abs. 1 GG (Berufsfreiheit).

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
I. Das Beitragssatzsicherungsgesetz ist formell verfassungsgemäß,
insbesondere war die Zustimmung des Bundesrates nicht erforderlich.

1. Art. 1 Nr. 8 BSSichG, durch den § 130a in das Fünfte Buch
Sozialgesetzbuch (SGB V) eingefügt wurde, bedurfte nicht der Zustimmung
des Bundesrates nach Art. 84 Abs. 1 GG.

§ 130a Abs. 8 SGB V regelt, dass Krankenkassen mit pharmazeutischen
Unternehmen über deren Rabattverpflichtungen hinaus weitere Rabatte für
die zu ihren Lasten abgegebenen Arzneimittel vereinbaren können. Dieser
Verweis auf eine Vereinbarung als Handlungsform der Krankenkassen zur
Herbeiführung eines weiteren Preisabschlages enthält keine nach Art. 84
Abs. 1 GG zustimmungsbedürftige Regelung. Verfahrensbestimmungen haben
keinen die Zustimmungsbedürftigkeit nach Art. 84 Abs. 1 GG auslösenden
Regelungscharakter, wenn sie keinen neuen Einbruch in die Verwaltungszuständigkeit der Länder darstellen, sondern eine bestehende
Verfahrensregelung nur konkretisieren. § 130a Abs. 8 SGB V ist keine
Rechtsnorm mit eigenständigem Regelungsgehalt, denn die Norm stellt den
Kassen keine neue Handlungsform zur Verfügung. Die Preisbildung der
pharmazeutischen Unternehmen war schon bislang frei. Die Krankenkassen
durften sich schon bisher Preisnachlässe versprechen und vergüten
lassen. Ein Vertrag mit entsprechendem Inhalt fand in den Vorschriften
des Allgemeinen Verwaltungsrechts schon vor Inkrafttreten der
angegriffenen Regelung eine ausreichende Grundlage.

2. Art. 7 Abs. 1 BSSichG, der die Anwendung des § 220 Abs. 2 SGB V bis
zum 31. Dezember 2003 ausgeschlossen hat, bedurfte ebenfalls nicht der
Zustimmung des Bundesrates nach Art. 84 Abs. 1 GG. § 220 Abs. 2 SGB V
betrifft das Verwaltungsverfahren zur Erhöhung des Beitragssatzes
während des Haushaltsjahres. Eine – hier zeitlich begrenzte – Beendigung
des Verwaltungshandelns der Länder auf einem bestimmten Gebiet löst die
Zustimmungsbedürftigkeit nach Art. 84 Abs. 1 GG jedoch nicht aus.

3. Das Gesetz zur Einführung von Abschlägen der pharmazeutischen
Großhändler (Art. 11 BSSichG) hat die Zustimmungsbedürftigkeit des
Beitragssatzsicherungsgesetzes ebenfalls nicht ausgelöst.

Zwar wäre eine im Wege einer Verordnung erfolgte Änderung der
bestehenden Handelsspannenreglementierung nach Art. 80 Abs. 2 GG
zustimmungsbedürftig gewesen. Die Ergänzung der Handelsspannenreglementierung durch förmliches Gesetz vermied jedoch die
Zustimmungsbedürftigkeit. Ein förmliches Gesetz, dessen Inhalt auch als
Verordnung hätte ergehen können, ist allein nach den Regeln zu
beurteilen, die die Zustimmungsbedürftigkeit förmlicher Gesetze
enthalten. Eine die Zustimmungsbedürftigkeit auslösende Verfassungsnorm
ist nicht ersichtlich.

4. Art. 2 Nr. 4 und 5, Art. 8 und 9 BSSichG lösen die

Zustimmungsbedürftigkeit ebenfalls nicht aus. Diese Vorschriften setzen
für das Jahr 2003 die Beitragssätze, Beitragsbemessungsgrenzen, Beiträge
und Beitragszuschüsse für die Rentenversicherung fest. Sie enthalten
förmliche Gesetze, für die keine der zustimmungsauslösenden Normen des
Grundgesetzes in Betracht kommt. Gesetzliche Regelungen bedürfen nicht
deshalb der Zustimmung, weil ihr Gegenstand bislang verordnungsrechtlich
geregelt war.

II. Auch Art. 4 BSSichG, der § 6 Abs. 1 Bundespflegesatzverordnung
(BPflV) ändert, löst die Zustimmungsbedürftigkeit nicht aus. Die
Zustimmungsbedürftigkeit einer Verordnungsänderung durch förmliches
Gesetz ist nach den für Gesetze geltenden Normen zu beurteilen, nicht
nach Art. 80 Abs. 2 GG. Darüber hinaus genügt Art. 4 BSSichG den
rechtsstaatlichen Anforderungen, die an die Änderung einer Verordnung
durch den Gesetzgeber zu stellen sind.

1. a) Eine über fünfzigjährige Staatspraxis zeigt ein Bedürfnis des
parlamentarischen Gesetzgebers, bei Änderung komplexer Regelungsgefüge,
in denen förmliches Gesetzesrecht und auf ihm beruhendes Verordnungsrecht ineinander verschränkt sind, auch das Verordnungsrecht
anzupassen. Die grundlegende Reform eines ganzen Rechtsgebiets kann in
vielen detailliert normierten Bereichen sinnvoll nur bewerkstelligt
werden, wenn sowohl förmliche Gesetze als auch auf ihnen beruhende
Verordnungen in einem einheitlichen Vorgang geändert und aufeinander
abgestimmt werden.

b) Durch die Änderung darf aber keine missverständliche, irreführende Norm entstehen, deren Bezeichnung (Verordnung) zu ihrem tatsächlichen
Rang (förmliches Gesetz) und den davon abhängigen Rechtsfolgen im
Widerspruch steht. Das Rechtsstaatsprinzip und das Prinzip der
Rechtssicherheit erlauben nur eine Lösung, die der geänderten Verordnung
einen einheitlichen Rang zuweist. Auch die grundlegende Verschiedenheit
der Kontroll- und Verwerfungskompetenzen von förmlichen Gesetzen und
Verordnungen verbietet es, beide Rechtsformen so zu vermischen, dass
eine klare Zuordnung nicht mehr möglich ist. Ändert das Parlament wegen
des sachlichen Zusammenhangs eines Reformvorhabens bestehende
Verordnungen oder fügt es in diese neue Regelungen ein, so ist das
dadurch entstandene Normgebilde aus Gründen der Normenklarheit daher
insgesamt als Verordnung zu qualifizieren.

c) Eine Änderung der Verordnung durch den Gesetzgeber ist jedoch im Hinblick auf den Grundsatz der Formenstrenge der Rechtssetzung und auf
das Prinzip der Rechtssicherheit nur unter folgenden Voraussetzungen
möglich: Dem parlamentarischen Gesetzgeber steht bei der Rechtssetzung
eine freie Formenwahl nicht zu. Die Durchbrechung dieses Grundsatzes
durch die Bestimmung einer vom Parlament erlassenen Norm kann nur
hingenommen werden, wenn es sich um eine Anpassung im Rahmen einer
Änderung eines Sachbereichs durch den Gesetzgeber handelt. Die Änderung
einer Verordnung unabhängig von sonstigen gesetzgeberischen Maßnahmen
ist unzulässig. Auch wenn der parlamentarische Gesetzgeber
Verordnungsrecht ändert, ist er an das Verfahren nach Art. 76 ff. GG
gebunden. Der Umstand, dass die Verordnung in ihrer durch Gesetz
geänderten Fassung insgesamt als Verordnungsrecht zu qualifizieren ist,
ändert nichts daran, dass für das Zustandekommen des ändernden Gesetzes
die grundgesetzlichen Regeln über die Gesetzgebung anzuwenden sind. Der
parlamentarische Gesetzgeber ist bei der Änderung einer Verordnung an
die Grenzen der Ermächtigungsgrundlage (Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG)
gebunden. Das ist zwingende Folge des Ziels, rechtsstaatswidrige
Mischgebilde aus förmlichem Gesetzes- und Verordnungsrecht zu vermeiden.
Die einheitliche Einordnung des Normengefüges als Verordnung auch nach
ändernden Eingriffen des parlamentarischen Gesetzgebers dient der
Rechtsmittelklarheit und der Effizienz des Rechtsschutzes gegen jede
einzelne Norm. Die Zustimmungsbedürftigkeit ist auch insoweit am Maßstab
der für förmliche Gesetze geltenden Normen zu beurteilen, nicht nach
Art. 80 Abs. 2 GG.

2. Nach diesen Maßstäben ist Art. 4 BSSichG verfassungsgemäß. Die Norm
bedurfte nicht der Zustimmung des Bundesrates nach Art. 84 Abs. 1 GG.
Darüber hinaus ist die Bundespflegesatzverordnung im Zusammenhang mit
anderen gesetzgeberischen Maßnahmen geändert worden, die zu
Einnahmesteigerungen und Ausgabenbegrenzungen im Gesundheitswesen führen
sollen. Schließlich halten sich die Änderungen der Bundespflegesatzverordnung in den Grenzen der Ermächtigungsgrundlage.

III. Das Gesetz ist auch im Übrigen verfassungsgemäß. Durch die
Bestimmungen des Beitragssatzsicherungsgesetzes werden Grundrechte nicht
verletzt.

1. Die Rabattvorschriften, Preissenkungen und Nullrunden (Art. 1 Nrn. 7
und 8, Art. 5, Art. 6, Art. 11 BSSichG) sind mit Art. 12 Abs. 1 GG
vereinbar.

Jede Preisreglementierung berührt die berufliche Betätigung, enthält
also eine Berufsausübungsregelung. Berufsausübungsregelungen müssen
durch vernünftige Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt sein. Dazu
gehört die Sicherung der finanziellen Stabilität der gesetzlichen
Krankenversicherung. Diesen Zweck verfolgt das Beitragssatzsicherungsgesetz, das unter anderem mit den Preissenkungen
zur Kostenbegrenzung der Krankenkassen beitragen will. Die Eingriffe
sind geeignet und erforderlich. Die Senkung der Arzneimittelpreise und
der Vergütungen ärztlicher und zahntechnischer Leistungen können zur
Ausgabenbegrenzung der Krankenkassen beitragen. Auch die Beteiligung der
Apotheker und Großhändler an der Abrechnung des Herstellerrabatts ist
erforderlich. Ein bloßer Eingriff in die Preisgestaltung hätte nicht die
gleiche Wirkung haben können. Die Preisregulierungen und ihre
Ausgestaltung sind den Betroffenen schließlich auch zuzumuten. Die von
den Betroffenen vorgetragenen Prognosen, das Zahntechnikerhandwerk werde
nicht mehr gewinnbringend ausgeübt werden und mehrere tausend Apotheken
müssten wegen Unwirtschaftlichkeit geschlossen werden, haben sich nach
inzwischen mehr als zweijähriger Geltung des Beitragssatzsicherungsgesetzes nicht bewahrheitet.

Soweit die Antragsteller geltend machen, dass durch die „additive„ Gesamtbelastung der Apotheken durch alle derzeit wirkenden
Grundrechtseingriffe das Maß der rechtsstaatlich hinnehmbaren
Eingriffsintensität überschritten sei, stützen sich ihre Ausführungen
überwiegend auf Vermutungen. In ihrer ausführlichen Stellungnahme legt
die Bundesregierung dar, dass die von den Antragstellern aufgestellten
Behauptungen nicht zuträfen. Die finanziellen Auswirkungen des
Beitragssatzsicherungsgesetzes könnten allenfalls geschätzt werden;
Angaben zu den Auswirkungen des finanziellen Beitrags der Handelsstufen
auf das Einkommen der Apothekerinnen und Apotheker lägen nicht vor. Wenn
eine Verletzung von Art. 12 GG allein durch wirtschaftliche Belastungen
einzelner Berufsgruppen im Zusammenhang mit Maßnahmen der Kostendämpfung
zur Sicherung der Beitragsstabilität geltend gemacht wird, lässt sich
eine Überschreitung des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums erst
dann feststellen, wenn die Beeinträchtigung der Berufsfreiheit
hinreichend substantiiert ist und belegt werden kann. Solange die
Prognosen des Gesetzgebers lediglich durch Vermutungen und Behauptungen
der wirtschaftlich Betroffenen in Frage gestellt werden, kann das
Bundesverfassungsgericht nicht eingreifen.

2. § 130a Abs. 1 und Abs. 2 SGB V (Art. 1 Nr. 8 BSSichG) ist mit Art. 14
Abs. 1 GG (Eigentumsgarantie) vereinbar. Entgegen der Stellungnahme des
Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie zu diesem Verfahren sind
die Maßstäbe, die das Bundesverfassungsgericht für die Auferlegung
nichtsteuerlicher Abgaben entwickelt hat, nicht auf staatliche
Preisreglementierungen wie Mindestvergütungen oder Zwangsrabatte
anwendbar. Sinn und Zweck der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Sonderabgaben ist es, zu verhindern,
dass Bürger jenseits der finanzverfassungsrechtlichen Verteilungsregeln
mit nichtsteuerlichen Abgaben belegt werden. Preisinterventionen des
Staates wirken sich demgegenüber nur im Bereich privatautonom
vereinbarter Leistungsbeziehungen aus; der Schutzzweck der
Rechtsprechung zu den Sonderabgaben greift hier nicht ein.

Zum Sondervotum der Richterin Osterloh und des Richters Gerhardt:
Die Richterin Osterloh und der Richter Gerhardt stimmen der Entscheidung
im Ergebnis zu, halten jedoch die Auffassung für verfehlt, dass Gesetze
als „im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren geschaffenes
Verordnungsrecht„ zu beurteilen sind, soweit sie Rechtsverordnungen
ändern (vgl. oben II.). Der Rang einzelner Regelungen bestimme sich nach
der bisherigen Staats- und Gerichtspraxis ausschließlich und in strikt
formeller Betrachtungsweise nach dem Urheber. Es bestehe kein Anlass,
hiervon abzugehen. Soweit es auf den Rang einzelner Bestimmungen
ankomme, könne er in aller Regel ohne weiteres den Verkündungsblättern
entnommen werden. Etwaige Zweifel seien durch Auslegung zu klären. Aus
der mehr als 50jährigen Praxis sei kein Fall belegt, in dem dies nicht
bewältigt worden sei. Entgegen der Senatsmehrheit gehe es auch nicht um
Unklarheiten hinsichtlich des Instanzenzuges (Rechtsmittelklarheit),
sondern um die Verteilung der Kompetenzen der Nichtigerklärung von
Normen zwischen Fachgerichten und Bundesverfassungsgericht. Etwaige
Schwierigkeiten hierbei beruhten nicht auf dem Rang der ineinander
greifenden Normen, sondern folgten aus der herkömmlichen Fragestellung
der Teilbarkeit eines Regelungskomplexes. Zudem sprächen die vom Senat
formulierten Voraussetzungen für den Erlass von parlamentarisch
verabschiedetem Verordnungsrecht gegen seine Konstruktion. Insbesondere
die Voraussetzung, es müsse sich um eine Anpassung im Rahmen einer
Änderung eines Sachbereichs handeln, berge angesichts der Vielgestaltigkeit der Aufgaben der Normgebung beachtliches
Konfliktpotential und sei der Rechtssicherheit abträglich.

Beschluss vom 13. September 2005 – 2 BvF 2/03 –

Karlsruhe, den 13. Oktober 2005