BVerfG: Ausschluss nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung ist verfassungsgemäß

Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber
nicht verschreibungs- pflichtige Arzneimittel aus dem Leistungskatalog
der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen hat. Dies hat die 3.
Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts in einem heute
veröffentlichten Beschluss vom 12. Dezember 2012 entschieden. Die
Belastung der Versicherten mit Zusatzkosten steht in angemessenem
Verhältnis zu dem unter anderem vom Gesetzgeber verfolgten Ziel, die
Kosten im Gesundheitswesen zu dämmen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen die folgenden Erwägungen
zugrunde:

1. Der Beschwerdeführer ist gesetzlich krankenversichert und leidet an
einer chronischen Atemwegserkrankung. Der Hausarzt behandelt die
Atemwegserkrankung dauerhaft mit einem nicht verschreibungspflichtigen
Medikament, das sich seit 2004 nicht mehr im Leistungskatalog der
gesetzlichen Krankenversicherung befindet. Dem Beschwerdeführer
entstehen nach seinem Vortrag dadurch monatliche Kosten von 28,80 €. Die
Krankenkasse lehnte die beantragte Kostenübernahme trotz ärztlicher
Verschreibung ab. Die Klage hiergegen blieb in allen Instanzen
erfolglos.

2. Mit der Verfassungsbeschwerde gegen das Revisionsurteil des
Bundessozialgerichts vom 6. November 2008 rügt der Beschwerdeführer die
Verfassungswidrigkeit des Ausschlusses nicht verschreibungspflichtiger
Arzneimittel aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen
Kranken-versicherung gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 Fünftes Buch
Sozialgesetzbuch (SGB V).

3. Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen,
denn sie hat keine Aussicht auf Erfolg. Soweit der Beschwerdeführer
einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz rügt, ist die
Verfassungsbeschwerde nicht begründet.

a) Chronisch Kranken wird nicht – wie vom Beschwerdeführer gerügt – ein
Sonderopfer zugunsten der Allgemeinheit, hier der gesetzlichen
Krankenversicherung, auferlegt. Die gesetzlichen Krankenkassen sind
nicht von Verfassungs wegen gehalten, alles zu leisten, was an Mitteln
zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit verfügbar ist.
Zumutbare Eigenleistungen können verlangt werden.

b) Aus dem allgemeinen Gleichheitssatz ergeben sich je nach
Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche
Grenzen für den Gesetzgeber. Differenzierungen bedürfen stets der
Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Differenzierungsziel und dem
Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind. Ungleich behandelt werden
Versicherte, die verschreibungspflichtige Medikamente einnehmen, und
Versicherte, die nicht verschreibungspflichtige Medikamente einnehmen.
Die Verschreibungspflicht knüpft an die Art des Medikaments an, so dass
davon auszugehen ist, dass fast alle Versicherten zu beiden Gruppen
gehören. Der Gesetzgeber unterliegt insofern keiner strengen Bindung an
Art. 3 Abs. 1 GG.

c) Die Ungleichbehandlung zwischen verschreibungspflichtigen und nicht
verschreibungs- pflichtigen Medikamenten, die für chronisch Kranke
tatsächlich höhere Zuzahlungen nach sich zieht, ist gerechtfertigt.

aa) Ob ein Medikament verschreibungspflichtig ist oder nicht,
entscheidet sich in erster Linie am Maßstab der Arzneimittelsicherheit.
Verschreibungspflichtige Arzneimittel sind stark wirksame Arzneimittel,
von denen eine Gesundheitsgefährdung ausgeht, wenn sie ohne ärztliche
Überwachung eingenommen werden. Von nicht verschreibungspflichtigen
Arzneimitteln geht diese Gefährdung nicht aus; der rechtlich nicht
gebundene Preis übernimmt hier eine Steuerungsfunktion bei der
Selbstmedikation. Der Gesetzgeber bedient sich somit eines Kriteriums,
das primär die Funktion hat, die Arzneimittelsicherheit zu
gewährleisten, auch mit dem Ziel, die finanzielle Inanspruchnahme der
gesetzlichen Krankenversicherung zu steuern. Insofern ist das Kriterium
nicht zielgenau. Es ist aber auch nicht sachwidrig, sondern zur Dämmung
der Kosten im Gesundheitswesen erforderlich und auch geeignet.

bb) Die Differenzierung ist auch im engeren Sinne verhältnismäßig, denn
die Belastung mit den Zusatzkosten für nicht verschreibungspflichtige
Medikamente steht in einem angemessenen Verhältnis zu den vom
Gesetzgeber mit dieser Differenzierung verfolgten Zielen. Da das hier in
Rede stehende Medikament ohne ärztliche Verschreibung erhältlich ist und
zur Gruppe der Medikamente mit typischerweise geringem Preis gehört, ist
es dem Versicherten grundsätzlich zumutbar, die Kosten hierfür selbst zu
tragen. Es ist auch nichts dafür ersichtlich, dass die vom
Beschwerdeführer konkret geltend gemachte finanzielle Belastung
unzumutbar wäre. Zudem hat der Gesetzgeber ergänzende Regelungen
getroffen, um die Belastung der chronisch Kranken durch die Kosten für
Medikamente in Grenzen zu halten.

d) Auch die Differenzierung des Gesetzgebers zwischen schwerwiegenden
und anderen Erkrankungen ist verfassungsrechtlich zu rechtfertigen. Bei
schwerwiegenden Erkrankungen, bei denen das Medikament zum
Therapiestandard gehört, können auch nicht verschreibungspflichtige
Medikamente zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnet
werden. Die Schwere der Erkrankung ist im Rahmen eines
Krankenversicherungssystems ein naheliegendes Sachkriterium, um
innerhalb des Leistungskatalogs zu differenzieren.

4. Die Verfassungsbeschwerde ist ebenso unbegründet, soweit ein Verstoß
gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG)
durch unterlassene Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen
Gemeinschaften gerügt wird. Das Bundessozialgericht hat die
Vorlagepflicht in vertretbarer Weise gehandhabt.

Pressemitteilung Nr. 2/2013 vom 16. Januar 2013
Beschluss vom 12. Dezember 2012
1 BvR 69/09