BverfG: Ausschluss ausländischer Staatsangehöriger mit humanitären Aufenthaltstiteln vom Bundeserziehungsgeld und vom Bundeselterngeld verfassungswidrig

Nach dem bis zum 31. Dezember 2006 geltenden
Bundeserziehungsgeldgesetz in der hier maßgeblichen Fassung von
2006 (BerzGG) und dem am 1. Januar 2007 in Kraft getretenen
Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (BEEG) ist die Gewährung
von Erziehungs- bzw. Elterngeld an ausländische Staatsangehörige
davon abhängig, über welche Art von Aufenthaltstiteln die
Betroffenen verfügen (§ 1 Abs. 6 BerzGG und § 1 Abs. 7
BEEG). Die zum unbefristeten Aufenthalt berechtigende
Niederlassungserlaubnis führt immer zur Anspruchsberechtigung.
Hingegen sind die Inhaber einer befristeten Aufenthaltserlaubnis
grundsätzlich nur dann anspruchsberechtigt, wenn die
Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit
berechtigt oder berechtigt hat. Vom Anspruch auf Erziehungs- oder
Elterngeld auch dann grundsätzlich ausgenommen sind allerdings
ausländische Staatsangehörige, denen der Aufenthalt aus
völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen
erlaubt ist. Für die Inhaber solcher humanitärer
Aufenthaltserlaubnisse gilt jedoch eine Rückausnahmeregelung,
wonach sie dann einen Anspruch auf Erziehungs- oder Elterngeld haben,
wenn sie sich seit mindestens drei Jahren rechtmäßig im
Bundesgebiet aufhalten und eines der in § 1 Abs. 6 Nr. 3b BerzGG
bzw. § 1 Abs. 7 Nr. 3b BEEG genannten Merkmale der
Arbeitsmarktintegration erfüllen, das heißt im
Bezugszeitraum entweder im Bundesgebiet berechtigt erwerbstätig
sind, Arbeitslosengeld I beziehen oder Elternzeit in Anspruch nehmen.

Die Klägerinnen und Kläger des Ausgangsverfahrens
verfügten während des streitigen Zeitraums über
humanitäre Aufenthaltstitel, waren zur Erwerbstätigkeit
berechtigt und erfüllten auch das Aufenthaltserfordernis, nicht
jedoch die Voraussetzungen des § 1 Abs. 6 Nr. 3b BerzGG bzw. §
1 Abs. 7 Nr. 3b BEEG. Ihre auf Gewährung von Erziehungs- bzw.
Elterngeld gerichteten Klagen führten zur Vorlage durch das
Bundessozialgericht, das die Regelungen in § 1 Abs. 6 Nr. 3b
BerzGG und § 1 Abs. 7 Nr. 3b BEEG für unvereinbar mit dem
allgemeinen Gleichheitssatz hält.

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat die vorgelegten
Vorschriften wegen Verstoßes gegen den allgemeinen
Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG und gegen das Verbot der
geschlechtsbezogenen Diskriminierung aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG für
nichtig erklärt.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen
zugrunde:

I. Die vorgelegten Regelungen
benachteiligen die betroffenen ausländischen Eltern in
verfassungswidriger Weise (Art. 3 Abs. 1 GG).

Sie verwehren Inhabern humanitärer Aufenthaltstitel, die die
genannten Merkmale der Arbeitsmarktintegration nicht erfüllen,
eine Leistung, die andere Eltern mit identischem Aufenthaltstitel
erhalten. Diese Ungleichbehandlung ist nicht gerechtfertigt.

1. Die genannten Voraussetzungen
dienen zwar dem grundsätzlich legitimen gesetzgeberischen Ziel,
Erziehungs- oder Elterngeld nur jenen ausländischen
Staatsangehörigen zu gewähren, die sich voraussichtlich auf
Dauer in Deutschland aufhalten. Die unterschiedliche Bleibedauer in
Deutschland kann hier im Grundsatz eine Ungleichbehandlung
rechtfertigen, soweit der Gesetzgeber mit den Leistungen eine
nachhaltige Bevölkerungsentwicklung in Deutschland fördern
will, weil dieses Ziel bei Gewährung an Personen, die das
Bundesgebiet bald wieder verlassen, verfehlt würde.

2. Die vom Gesetzgeber gewählten
Differenzierungskriterien sind jedoch zur Verwirklichung dieses Ziels
ungeeignet, weil sich mit ihnen die Aufenthaltsdauer der Betroffenen
nicht vorhersagen lässt. a) Der Besitz einer humanitären
Aufenthaltserlaubnis allein ist kein hinreichendes Indiz für das
Fehlen einer dauerhaften Aufenthaltsperspektive. Es entspricht der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte, dass sich die formale Art des
Aufenthaltstitels allein nicht als Grundlage einer Prognose über
die Aufenthaltsdauer eignet. Ein Grund, von dieser Einschätzung
abzuweichen, besteht nicht.

b) Des Weiteren bilden auch die in den vorgelegten Normen
genannten Merkmale der Arbeitsmarktintegration keine hinreichende
Grundlage für eine Prognose über die zu erwartende
Aufenthaltsdauer. Sie haben zwar eine gewisse Aussagekraft bezüglich
der Arbeitsmarktintegration der Betroffenen im zeitlichen Umfeld der
Geburt ihres Kindes und mögen insoweit als Indiz für eine
dauerhafte Bleibeperspektive zu werten sein.

Dies rechtfertigt jedoch nicht den Umkehrschluss, dass denjenigen,
die diese Voraussetzungen nicht erfüllen, eine dauerhafte
Aufenthaltsperspektive abzusprechen ist. Vielmehr kehren Inhaber
humanitärer Aufenthaltserlaubnisse regelmäßig nicht
in ihr Herkunftsland zurück, solange die bei der Erteilung der
Aufenthaltserlaubnis maßgeblichen Gründe fortbestehen,
ohne dass es dabei auf die Arbeitsmarktintegration ankäme. Des
Weiteren ist die Nichterfüllung der genannten Kriterien auch für
eine Verlängerung der betroffenen Aufenthaltserlaubnisse nicht
von solcher Bedeutung, dass sich daraus eine negative Bleibeprognose
ableiten ließe. Denn das Aufenthaltsgesetz macht die
Verlängerung des Aufenthalts in Deutschland aus humanitären
Gründen nicht zwingend von der Sicherung des eigenen
Lebensunterhalts abhängig.

An einer dauerhaften Bleibeperspektive fehlt es auch nicht
deshalb, weil bei Nichterfüllung der beschäftigungsbezogenen
Voraussetzungen keine Aussicht auf eine Niederlassungserlaubnis und
den damit verbundenen unbefristeten Aufenthalt bestünde. Dass
die Kriterien im Zeitraum des potenziellen Erziehungs- und
Elterngeldbezugs nicht erfüllt werden, indiziert nicht, dass es
auch später nicht zur Erteilung einer Niederlassungserlaubnis
kommen wird. Für die im Rahmen der Erteilung einer
Niederlassungserlaubnis anzustellende Prognose, ob der Betroffene
seinen Lebensunterhalt in Zukunft ohne Inanspruchnahme öffentlicher
Mittel aufbringen kann, sind die in den vorgelegten Normen
verwendeten Kriterien nicht geeignet. Zum einen nehmen sie lediglich
den kurzen Bezugszeitraum in den Blick und lassen eine
Arbeitsmarktintegration in anderen Zeiträumen außer
Betracht. Zum zweiten stellen die Voraussetzungen damit auf einen
Zeitabschnitt – nämlich die ersten 14 bzw. 24 Lebensmonate
des Kindes – ab, in dem sowohl die Ausübung einer
Erwerbstätigkeit als auch die für einen Anspruch auf
Arbeitslosengeld I erforderliche tatsächliche Verfügbarkeit
für den Arbeitsmarkt gerade wegen der Geburt des Kindes
elternspezifische Schwierigkeiten aufwirft.

Dies gilt ebenso für die dritte Alternative, die
Inanspruchnahme von Elternzeit, die im Zeitraum nach der Geburt eines
Kindes nahezu unerfüllbar ist, sofern nicht bereits vor der
Geburt ein Arbeitsverhältnis begründet wurde, das während
des Bezugszeitraums fortbesteht.

Eine Erwerbstätigkeit bzw. die Arbeitsmarktverfügbarkeit
in den ersten Lebensmonaten eines Kindes zu verlangen, steht außerdem
im Widerspruch zu dem mit der Gewährung von Eltern- und
Erziehungsgeld verfolgten gesetzgeberischen Ziel, Eltern die
Möglichkeit zu geben, sich der Betreuung ihrer Kinder in deren
ersten Lebensmonaten ohne finanzielle Not selbst zu widmen.

II. Die vorgelegten Regelungen
verstoßen überdies gegen das Verbot der
geschlechtsbezogenen Benachteiligung aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG. Sie
benachteiligen Frauen im Vergleich zu Männern, weil sie den
Anspruch auf Erziehungs- oder Elterngeld von arbeitsmarktbezogenen
Voraussetzungen abhängig machen, die Frauen schwerer erfüllen
können als Männer. So stehen Frauen aufgrund
mutterschutzrechtlicher Vorschriften – anders als Männer –
in den ersten acht Wochen nach der Geburt eines Kindes dem
Arbeitsmarkt aus rechtlichen Gründen nicht zur Verfügung.
Zudem ist stillenden Müttern die Ausübung einer
Erwerbstätigkeit praktisch nur unter erschwerten Umständen
möglich.

Eine Regelung, die weder an das Geschlecht anknüpft noch
Merkmale verwendet, die von vornherein nur Frauen oder nur Männer
treffen können, die aber Frauen aufgrund rechtlicher oder
tatsächlicher Umstände der Mutterschaft gegenüber
Männern benachteiligt, unterliegt den strengen
Rechtfertigungsanforderungen der geschlechtsbezogenen Benachteiligung
nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG. Daran sind somit auch die vorgelegten
Regelungen zu messen. Zwar sind sie geschlechtsneutral formuliert;
jedoch ist die aus ihnen resultierende Benachteiligung von Frauen eng
mit den rechtlichen und biologischen Umständen der Mutterschaft
verbunden. Diese Benachteiligung von Frauen lässt sich schon
deshalb nicht rechtfertigen, weil sich mit den genannten

Differenzierungsmerkmalen die gesetzgeberische Absicht, die Fälle
voraussichtlich langer Aufenthaltsdauer zu erfassen, nicht erreichen
lässt (vgl. I.).

Pressemitteilung zum Beschluss vom 10. Juli 2012 – 1 BvL 2/100, 1 BvL 3/10, 1 BvL 4/10 und 1 BvL 3/11