Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat die gegen den Bundestag gerichtete Organklage
verworfen und die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Dadurch haben sich
die zugleich erhobenen Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung erledigt.
Sachverhalt:
Der Antragsteller und Beschwerdeführer (Bf) ist Mitglied des Deutschen Bundestages. Er wendet sich
gegen den Beschluss des Ältestenrates des Deutschen Bundestages, am 12./13. Mai 2005 über das
Zustimmungsgesetz über eine Verfassung für Europa in zweiter und dritter Lesung zu beschließen.
In seiner Eigenschaft als Abgeordneter des Deutschen Bundestages sieht er sich durch diesen Beschluss in seinem Recht aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt und macht geltend, das beabsichtigte
Zustimmungsgesetz sei verfassungs- und staatswidrig (Organstreitverfahren).
Als Bürger der Bundesrepublik Deutschland werde er in seinen Grundrechten der politischen Freiheit
aus Art. 2 Abs. 1 GG und auf Vertretung durch den Deutschen Bundestag aus Art. 38 Abs. 1
Satz 2 GG verletzt. Er könne sich auch auf das grundrechtsgleiche Recht des Widerstands aus Art. 20
Abs. 4 GG stützen (Verfassungsbeschwerde).
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
1. Der Antrag im Organstreitverfahren ist unzulässig. Der Antragsteller ist nicht antragsbefugt. Die hier
angegriffene Terminierung kann Rechte des Antragstellers nicht verletzen. Mit der zweiten und dritten
Beratung erfüllt der Deutsche Bundestag die im parlamentarischen Binnenrecht vorgesehenen Voraussetzungen
eines ordnungsgemäßen Gesetzgebungsverfahrens. Zugleich ermöglicht er die von der Verfassung
formulierte Erwartung, dass sich die Abgeordneten des Deutschen Bundestages in der öffentlichen Beratung
eine Meinung über den Gesetzesentwurf bilden können. Erst die freie Debatte im Deutschen Bundestag
verbindet das Gesetzgebungsverfahren mit einer substantiellen Willensbildung, die es dem Abgeordneten
ermöglicht, die Verantwortung für seine Entscheidung zu übernehmen.
2. Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig. Tauglicher Gegenstand der Vb wäre erst das Zustimmungsgesetz
selbst, nicht bereits dessen Lesung und Beschlussfassung hierüber im Deutschen Bundestag.
Insoweit fehlt es an einem Akt der öffentlichen Gewalt, der Rechte des Bf berühren könnte. Lesung und
Beschlussfassung sind Bestandteile des Gesetzgebungsverfahrens. Sie entfalten dem Bürger gegenüber
keine unmittelbare Auswirkung.
Ebensowenig kann sich der Bf hier dagegen wenden, dass sich der Deutsche Bundestag überhaupt mit
der Angelegenheit befasst und diese auf die Tagesordnung setzt. Der Beschluss des Ältestenrates erzeugt
gegenüber dem Bürger keine rechtserheblichen Wirkungen.
Den Interessen des Bf ist hinreichend dadurch Rechnung getragen, dass er gegen das Zustimmungsgesetz
zum Vertrag über eine Verfassung für Europa unmittelbar nach Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens
in Bundestag und Bundesrat schon vor Ausfertigung und Verkündung mit der Vb vorgehen kann. Der
Bundespräsident hat etwa im verfassungsgerichtlichen Verfahren betreffend das Zustimmungsgesetz zum
Vertrag von Maastricht erklärt, er werde die Ratifikationsurkunde erst unterzeichnen, wenn das Bundesverfassungsgericht
in der Hauptsache entschieden habe. Desgleichen sicherte die Bundesregierung im
damaligen Verfahren zu, die Ratifikationsurkunde vorerst nicht zu hinterlegen.
Beschluss vom 28. April 2005 – 2 BvR 636/05 und 2 BvE 1/05 –
Karlsruhe, den 28. April 2005