OVG NRW: Muslimischer Glaube kann von Pflicht zur Teilnahme an Klassenfahrt befreien

OVG NRW, Beschluss vom 17.1.2002 – 19 B 99/02

Die Antragstellerin, eine muslimische Schülerin der 10. Klasse, begehrte, den Schulleiter durch einst­wei­li­ge Anordnung zu verpflichten, sie von der Teilnahme an einer Klassenfahrt zu be­frei­en, weil, wie sie unter Vorlage eines Gutachtens eines islamischen Zentrums vortrug, ihr Glau­be ihr verbiete, ohne Begleitung eines “Mahram”, eines nahen männlichen Verwandten, an ei­ner Klassenfahrt mit Übernachtung außerhalb des Elternhauses teilzunehmen.

Das OVG sah keine Notwendigkeit zum Erlass der einstweiligen Anordnung, weil die An­trag­stel­le­rin wegen Erkrankung i. S. d. § 9 Abs. 1 ASchO NRW an der Teilnahme an der Klas­sen­fahrt gehindert sei.

Aus den Gründen:

Die Antragstellerin benötigt keine Befreiung nach § 11 Abs. 1 ASchO NRW im Hinblick auf die be­vor­ste­hen­de Klassenfahrt und folglich auch nicht den Erlass der beantragten einstweiligen An­ord­nung. Sie hat ein sehr eindrückliches Bild der Beschränkungen und Zwänge, denen sie insbe­son­de­re als Mädchen mit ihren religiösen Vorstellungen unterworfen ist, und der Ängste, die sich für sie daraus mit Blick auf zu erwartende Situationen bei einer Klassenfahrt ergeben, ge­zeich­net. In ihrer eidesstattlichen Versicherung vom 11.1.2002 führt sie aus: Sie sei gläubige Mus­li­min und versuche weitgehend, ihr Leben nach ihrer Religion auszurichten. Klassenfahrten be­schränk­ten sie wesentlich darin, ihr Leben so zu gestalten, wie es ihr Glaube von ihr ver­lan­ge. Die Antragstellerin verweist auf

– ihre ständige Furcht, auf Klassenfahrten könne in ihrem Essen Schweinefleisch sein, das sie aus religiösen Gründen nicht esse,

– ihre Furcht, die fünf notwendigen täglichen Waschungen und Gebete nicht vornehmen zu kön­nen,

– ihre psychische Belastung bei Nichteinhaltung der Regeln,

– ihre Furcht, ihre Mitschülerinnen könnten sie seltsam finden, wenn sie so dusche, wie es ihr Glau­be ihr allein ermögliche,

– ihre Furcht, sich sogar vor ihren Mitschülerinnen unbekleidet zeigen zu müssen,

– ihre Furcht, ihr Kopftuch zu verlieren,

– ihre ständige Hektik in Sorge darum, nie ohne Kopftuch zu sein.

Auch wenn die Antragstellerin ausdrücklich betont, sie fühle sich “durch die Religion gar nicht un­ter­drückt”, so sind doch ihre Ängste, die sie artikuliert, religiös bedingt. Sie hat insgesamt Angst, in die angeführten Situationen zu kommen und ohne einen “Mahram” – wie Vater, Groß­va­ter, Bruder oder Onkel – über Nacht zu verreisen, also auch an der Klassenfahrt teilnehmen zu müssen. Nach der eidesstattlichen Versicherung ist überwiegend wahrscheinlich, dass die An­trag­stel­le­rin von den gesehenen Zwängen und den Ängsten so geprägt ist, dass sie ohne ei­ne nach ihren maßgeblichen religiösen Vorstellungen geeignete Begleitperson nicht an der Klas­sen­fahrt teilnehmen kann. Diese durch Zwänge und Ängste gekennzeichnete Situation bei der Klassenfahrt ist der bereits Krankheitswert besitzenden Situation einer partiell psychisch Be­hin­der­ten vergleichbar, die behinderungsbedingt nur mit einer Begleitperson reisen kann. Es spricht Überwiegendes dafür, dass die geschilderten Zwänge und Ängste auch bei der An­trag­stel­le­rin bereits Krankheitswert erreichen, so dass sie i.S. v. § 9 Abs. 1 ASchO NRW begründet verhindert ist, an der Klassenfahrt teilzunehmen.