OVG NRW: Bestandsschutz

Urteil: Bestandsschutz

Ein “Ledigenwohnheim”, das alleinstehenden ausländischen Arbeitskräften (Gastarbeitern) zur Verfügung gestellt wird, ist ein Wohngebäude, wenn in ihm die Wohnbedürfnisse jedenfalls von Einzelpersonen in einer gewissen Häuslichkeit befriedigt werden könne.

Zum Umfang und zu den Grenzen des durch eine Baugenehmigung vermittelten Bestandsschutzes (Abweichung von BVerwG, U.v. 18.05.1996 – 4 C 20.94 – BRS 57 Nr. 67).

Wird ein Wohngebäude auch über zahlreiche Jahre hinweg nicht genutzt, so führt die bloße Nichtnutzung als solche nicht schon regelmäßig zum Erlöschen des durch die erteilte Baugenehmigung vermittelten Bestandsschutzes; eine Aufgabe der Wohnnutzung und damit ein Erlöschen des Bestandsschutzes ist vielmehr erst dann regelmäßig anzunehmen, wenn das Gebäude selbst in einer Weise dem Verfall preisgegeben wird, der auch nach außen hin verdeutlicht, daß eine (jederzeitige) Wiederaufnahme der nur unterbrochenen Nutzung vom Berechtigten offensichtlich nicht mehr gewollt ist.

OVG NW-Urteil vom 14.3.1997 – 7 A 5179/95 –

I. Instanz: VG Arnsberg – 4 K 2198/95

Der Kläger wendet sich gegen eine der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung, mit der der Umbau eines in den 50er Jahren unter Befreiung von den Abstandvorschriften als Ledigenwohnheim genehmigten Gebäudes in ein Wohnhaus mit mehreren Wohnungen bauaufsichtlich zugelassen wurde. Die Beteiligten streiten im wesentlichen darum, ob die Nichteinhaltung des landesrechtlich erforderlichen Abstands zum Grundstück des Klägers unbeachtlich ist, weil sie noch vom Bestandsschutz des Gebäudes, das jahrelang nicht genutzt wurde, gedeckt ist. Die Klage hatte in beiden Instanzen keinen Erfolg. Das OVG hat die – zwischenzeitlich auch eingelegte – Revision zugelassen.

Aus den Gründen:

Zutreffend ist das VG davon ausgegangen, daß das strittige Vorhaben insoweit zu Lasten des Klägers gegen die nachbarschützenden Regelungen des § 6 BauO NW verstößt, als es bei der hier einzuhaltenden offenen Bauweise mit seiner Südwestwand wegen der schräg verlaufenden Grundstücksgrenze teilweise dichter als 3 m an das Grundstück des Klägers heranrückt…

Dieser objektiv gegebene, nachbarrelevante Abstandverstoß ist jedoch unbeachtlich, weil die dem Begeladenen genehmigte Veränderung des Gebäudes noch von dessen Bestandsschutz gedeckt und deshalb vom Kläger hinzunehmen ist.

Der Bestandsschutz sichert bauliche Anlagen gegenüber Änderungen der Baurechtsordnung und erstreckt sich dabei aus der verfassungsrechtlichen Sicht des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG nur auf ihren genehmigten Bestand und ihre genehmigte Funktion. Er erfaßt grundsätzlich nicht Bestands- oder Funktionsänderungen, weil diese über den genehmigten Zustand hinausgreifen würden und ein solches Hinausgreifen von den die Eigentümerstellung regelnden Bauvorschriften nicht gedeckt wäre.

Vgl.: BVerfG, Beschluß vom 15.12.1995 – 1 BvR 1713/92 – BRS 57 Nr. 246.

Nichts anderes, nämlich die Beschränkung des Bestandsschutzes auf den genehmigten Bestand und die genehmigte Funktion, gilt auch dann, wenn ein Gebäude – wie hier bezüglich des zum Grundstück des Klägers gegebenen Abstandverstoßes – auch schon im Zeitpunkt seiner Errichtung dem materiellen Baurecht widersprach, jedoch seinerzeit unter Befreiung von der Einhaltung des entgegenstehenden Baurechts genehmigt wurde.

Auch insoweit sichert Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG unter dem Gesichtspunkt des Bestandsschutzes dem Eigentümer das durch die Eigentumsausübung Geschaffene und verleiht einem (formell) rechtmäßig begründeten Bestand und seiner Nutzung – innerhalb gewisser Grenzen – Durchsetzungskraft auch gegenüber (neuen) entgegenstehenden gesetzlichen Anforderungen.

Vgl. : BVerwG, Urteil vom 25.3.1988 – 4 C 21.85 – BRS 48 Nr. 138.

Dieser Bestandsschutz kann zum einen bei Eingriffen in die Bausubstanz erlöschen. Letzteres ist der Fall, wenn das Gebäude zerstört oder so erheblich geändert wird, daß das geänderte Gebäude nicht mehr mit dem alten, bestandsgeschützten identisch ist.

Vgl.: BVerwG, Beschluß vom 27.7.1994 – 4 B 48.94 – BRS 56 Nr. 85.

Um einen solchen Fall des erheblichen Eingriffs in die Bausubstanz handelt es sich hier nicht. Das 1957 genehmigte und 1959 mit entsprechender Genehmigung im Dachgeschoß geänderte Gebäude ist in seiner äußeren Erscheinungsform unverändert erhalten geblieben. Auch die strittige Genehmigung enthält insoweit keine signifikanten Veränderungen des Bauwerks.

Gleiches gilt für die innere Struktur des Gebäudes. Die auf Grund der angefochtenen Genehmigung im Bauwerk vorzunehmenden baulichen Veränderungen beschränken sich auf die Beseitigung und Neuanlage bzw. Verschiebung einzelner Trennwände, wobei lediglich im Erdgeschoß wegen der Umwandlung des ehemaligen Speisesaals und der Küche in funktionsgerechte Räume für abgeschlossene Wohneinheiten die notwendigen Umbauten einen größeren Umfang einnehmen. Insgesamt wird das Gebäude seiner baulichen Erscheinung und Struktur nach jedoch nur so geringfügig geändert, daß es ohne weiteres als noch mit dem früheren Objekt identisch und nicht etwa gegenüber diesem als “aliud” zu werten ist.

Ein Erlöschen des Bestandsschutzes kommt ferner dann in Betracht, wenn die genehmigte Nutzung aufgegeben wird. Insoweit richtet sich die Frage, ob eine bestimmte Art der Nutzung einer baulichen Anlage (noch) in ihrem Bestand geschützt ist, danach, ob und gegebenenfalls in welchem Maße die baurechtliche Situation nach der Verkehrsauffassung als noch von dieser Nutzung geprägt erscheint. Vom Standpunkt eines objektiven Betrachters aus gesehen muß die Anlage in ihrer Umgebung für die bisher dort ausgeübte Nutzung noch offen sein. Dabei endet der Bestandsschutz für eine bestimmte Art der Nutzung nicht notwendig schon mit deren faktischer Beendigung. Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG räumt dem Berechtigten vielmehr zum Schutz des Vertrauens in den Fortbestand einer bisherigen Rechtsposition je nach den konkreten Einzelumständen eine gewisse Zeitspanne ein, innerhalb derer der Bestandsschutz nachwirkt und noch Gelegenheit besteht, an den früheren Zustand anzuknüpfen. Jedoch überwiegt das öffentliche Interesse an der Durchsetzung der (veränderten) baurechtlichen Ordnung, wenn der Berechtigte erkennbar von dem Bestandsschutz keinen Gebrauch mehr machen will. In einer für die Verkehrsauffassung besonders sinnfälligen Weise kommt die Beendigung einer bestimmten Art von Nutzung dadurch zum Ausdruck, daß der Berechtigte in dem Gebäude eine andersartige Nutzung aufnimmt und dies nach außen sichtbar wird. Der tatsächliche Beginn einer anderen Nutzung, die außerhalb der Variationsbreite der bisherigen Nutzungsart liegt und die erkennbar nicht nur vorübergehend ausgeübt werden soll, unterbricht den Zusammenhang und läßt den Bestandsschutz, der lediglich die Fortsetzung der bisherigen, einmal rechtmäßig ausgeübten Nutzung gewährleisten soll, entfallen.

Vgl.: BVerwG, Urteil vom 25.3.1988 – 4 C 21.85 – BRS 48 Nr. 138 m.w.N..

Auch nach Maßgabe dieser Kriterien scheidet im vorliegenden Fall ein Erlöschen des Bestandsschutzes aus.

Entgegen der Auffassung des Klägers ist ein Bestandsschutz des strittigen Gebäudes nicht bereits deshalb entfallen, weil es sich bei diesem ursprünglich um eine gewerbliche Anlage gehandelt hätte, bei dem die Lösung vom Betriebszweck den Rahmen der Genehmigung verlassen und zum Erlöschen des Bestandsschutzes geführt hätte. Das Gebäude ist 1957 vielmehr als Wohngebäude genehmigt worden, ohne daß im Zusammenhang mit dieser Genehmigung bzw. der 1959 erteilten weiteren Genehmigung zum Ausbau des Dachgeschosses eine rechtlich bindende Verknüpfung der Nutzung mit dem Betrieb der M.fabrik festgelegt wurde.

Die Genehmigung als “Ledigenwohnheim” beinhaltet die bauaufsichtliche Zulassung einer Wohnnutzung. Der Begriff des Wohnens ist durch eine auf Dauer angelegte Häuslichkeit, Eigengestaltung der Haushaltsführung und des häuslichen Wirkungskreises sowie Freiwilligkeit des Aufenthalts gekennzeichnet.

Vgl.: BVerwG, Beschluß vom 25.3.1996 – 4 B 302.95 – NVwZ 1996, 893 f.

Diese Merkmale erfüllte das 1957/59 genehmigte Wohnheim. Es war nicht nur mit bloßen Schlafstätten ausgestattet, sondern bot seinen Bewohnern hinreichende Möglichkeiten für einen dauerhaften Aufenthalt unter Befriedigung individueller Wohnbedürfnisse. (wird ausgeführt) Die Nutzung durch die Bewohner war ersichtlich auch auf Dauer angelegt und durch das Merkmal der Freiwilligkeit des Aufenthalts gekennzeichnet.

Dieses Wohngebäude stand faktisch zwar in funktionalen Zusammenhang mit dem Betrieb der M.fabrik, indem es dort tätigen ausländischen Arbeitskräften zum Aufenthalt zur Verfügung gestellt wurde. Eine rechtlich bindende Verknüpfung der Zulässigkeit der Nutzung mit der Betriebszugehörigkeit der Nutzer, wie sie etwa für Werks- bzw. Betriebswohnungen im Sinne der §§ 8 Abs. 3 Nr. 1, 9 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO vorgesehen ist, wurde durch die erteilten Genehmigungen jedoch nicht festgelegt. Dementsprechend entfiel der Bestandsschutz auch nicht bereits dadurch, daß das Gebäude – zu welchem Zeitpunkt auch immer – aus der Betriebszugehörigkeit herausgelöst wurde.

Zu den Auswirkungen nutzerbezogener Einschränkungen einer Baugenehmigung auf den Umfang des Bestandsschutzes vgl.: BVerwG, Beschluß vom 23.11.1995 – 4 B 209.95 – BRS 57 Nr. 189.

Ein Erlöschen des Bestandsschutzes käme nach alledem nur dann in Betracht, wenn bereits der Umstand, daß das Ledigenwohnheim nach den dem Senat nunmehr vorliegenden Erkenntnissen

jedenfalls über mehr als 20 Jahre nicht genutzt worden ist, als Aufgabe der genehmigten Nutzung zu werten wäre. Auch das ist hier nicht der Fall.

Allerdings hat das BVerwG in seiner jüngeren Rechtsprechung die Auffassung vertreten, das von ihm für den Anwendungsbereich der §§ 35 Abs. 4 Satz l Nr. 3 BauGB bzw. 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 BauGBMaßnG (früher: § 35 Abs. 5 Nr. 2 BBauG) entwickelte Zeitmodell für die Beurteilung der

Frage, wann die Verkehrsauffassung noch mit einer alsbaldigen Neuerrichtung eines zulässigerweise errichteten, durch Brand, Naturereignisse oder andere außergewöhnliche Ereignisse zerstörten, gleichartigen Gebäudes an gleicher Stelle rechnet, spiele als “Orientierungshilfe” auch im Rahmen der Fragestellung eine Rolle, nach welchem Zeitablauf ein Wechsel der Grundstückssituation auf den Bestandsschutz durchschlägt.

Vgl.: BVerwG, Urteil vom 18.5.1995 – 4 C 20.94 – BRS 57 Nr. 67.

Hiernach rechnet die Verkehrsauffassung im ersten Jahr nach der Zerstörung des Bauwerks stets mit dem Wiederaufbau, so daß sich eine Einzelfallprüfung erübrigt. Im zweiten Jahr nach der Zerstörung spricht eine Regelvermutung für den Wiederaufbau, die im Einzelfall jedoch entkräftet werden kann, wenn Anhaltspunkte für das Gegenteil vorhanden sind. Schließlich kehrt sich diese Vermutung nach Ablauf von zwei Jahren um. Es ist davon auszugehen, daß die Grundstückssituation nach so langer Zeit für eine Neuerrichtung nicht mehr offen ist. Der Bauherr hat dann besondere Gründe dafür darzulegen, daß die Zerstörung des Gebäudes noch keinen als endgültig erscheinenden Zustand herbeigeführt hat. Bezogen auf den vorliegenden Fall würde die Anwendung dieses Zeitmodells bedeuten, daß der Beigeladene besondere Gründe darzulegen hätte, die die Regelvermutung eines Erlöschens des Bestandsschutzes durch die mehr als zwei Jahre andauernde Nichtnutzung des Gebäudes entkräften.

Der Senat läßt dahinstehen, ob das genannte, für einen speziellen gesetzlichen Regelungsbereich

– “alsbaldige” Neuerrichtung eines zerstörten Gebäudes – entwickelte Zeitmodell überhaupt auf die hier in Rede stehende Fragestellung des Erlöschens eines durch eine wirksame Baugenehmigung vermittelten Bestandsschutzes übertragbar ist.

Vgl. hierzu kritisch: Uechtritz, “Grenzen des baurechtlichen Bestandsschutzes bei Nutzungsunterbrechungen”, DVBl. 1997, 347 ff.

Auf den hier interessierenden Fall der bloßen Nichtnutzung eines – nicht zerstörten – Wohngebäudes ist der in dem angeführten Zeitmodell enthaltene Zeitrahmen jedenfalls nicht – auch nicht als “Orientierungshilfe” – übertragbar. Wird ein zu Wohnzwecken genehmigtes Gebäude auch über zahlreiche Jahre hinweg lediglich nicht genutzt, zieht die Verkehrsauffassung daraus allein noch nicht regelmäßig den Schluß, die – legal ins Werk gesetzte – Wohnnutzung sei damit bereits endgültig aufgegeben. Die Gründe, ein Wohngebäude auch über längere Zeiträume nicht zu nutzen, sind vielfältiger Natur. Sie können ihre Ursache etwa in bestimmten Marktsituationen, finanztechnischen Gründen oder auch nur persönlichen Umständen haben. Angesichts dieser in der Praxis nicht unüblichen Vielfalt von Gründen auch für ein längerfristiges Nichtnutzen von

Wohnraum, die nach außen durch nichts erkennbar sind, kann das bloße Leerstehen eines Wohngebäudes als solche nicht regelmäßig bereits nach zwei (oder auch mehr) Jahren schon als endgültige Nutzungsaufgabe mit der Folge gewertet werden, daß der betreffende Hauseigentümer spezielle Gründe zur Widerlegung einer solchen Regelvermutung darzulegen hat. Eine Rechtspflicht zur Nutzung von Wohnraum gibt es nicht. Schließlich enthält das insoweit einschlägige Landesrecht (BauO NW 1995 bzw. deren Vorläufer) auch keine speziellen normativen Vorgaben dafür, daß eine erteilte Baugenehmigung nach Realisierung des Vorhabens schon durch

eine bestimmte zeitlich begrenzte Nichtnutzung des genehmigten Bauwerks erlischt. Regelungen über das Erlöschen der Baugenehmigung, an die die Verkehrsauffassung mit zeitlichen Erwartungen anknüpfen könnte, trifft § 77 BauO NW 1995 (früher: § 72 BauO NW 1984) nur für den Fall des Nichtbeginns mit der Bauausführung bzw. für deren Unterbrechung; der hier interessierende Fall einer Nutzungsunterbrechung nach Realisierung und Innutzungnahme des Bauwerks ist in der Landesbauordnung hingegen nicht geregelt.

Eine bloße Nichtnutzung kann sich allerdings äußerlich erkennbar dahin dokumentieren, daß eine künftige Weiternutzung offensichtlich aufgegeben worden ist. Letzteres wird dann anzunehmen sein, wenn das Gebäude selbst in einer Weise dem Verfall preisgegeben wird, der auch nach außen hin verdeutlicht, daß eine (jederzeitige) Wiederaufnahme der nur unterbrochenen Nutzung vom Berechtigten offensichtlich nicht mehr gewollt ist. Dann geht die Verkehrsauffassung auch bei Wohngebäuden in der Tat davon aus, daß die Anlage für die bisher ausgeübte Nutzung nicht mehr im dargelegten Sinne “noch offen” ist. Der bloße Zeitablauf als solcher indiziert bei leerstehenden Wohngebäuden, die – auch äußerlich erkennbar – noch zu Wohnzwecken funktionsgerecht nutzbar bleiben, hingegen noch nicht eine endgültige Nutzungsaufgabe mit der Folge, so daß auch der durch die erteilte und ausgenutzte Baugenehmigung vermittelte Bestandsschutz nicht schon wegen der Nichtnutzung erlischt.

So liegt der Fall hier. Zwar ist das strittige Gebäude über mehr als 20 Jahre nicht genutzt worden. Es ist dabei jedoch – aus welchen Gründen auch immer – äußerlich erkennbar in einem Zustand verblieben, der es noch als funktionsfähiges, jederzeit wieder in Nutzung nehmbares Wohnhaus erscheinen ließ.