OVG Berlin: Love-Parade

OVG Berlin, Beschluss vom 11. August 2002 – OVG 2 S 26.02

Beschluß

In der Verwaltungsstreitsache (…) hat der 2. Senat des Oberverwaltungsgerichts Berlin (…) am 11. Juli 2002 beschlossen:

Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluß des Verwaltungsgerichts Berlin vom 2. Juli 2002 wird zurückgewiesen.

Die Antragstellerin träg die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.

Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird auf 2 000 EUR festgesetzt.

G r ü n d e

I.

Die Antragstellerin ist Eigentümerin … in der … in Berlin-Tiergarten. … liegt an dem nördlichen … Abschnitt der …. Parallel zu dem südlichen Abschnitt der … , getrennt durch einen ca. 300 m breiten Grünstreifen des Tiergartens, verläuft die Straße des 17. Juni, auf der entlang sich am 13. Juli 2002 ab 14.00 Uhr der Zug der Love-Parade 2002 in Richtung Großer Stern bewegen soll.

Die Antragstellerin wehrt sich im vorläufigen Rechtsschutzverfahren gegen die der Beigeladenen als Veranstalterin der Love-Parade 2002 für diesen Tag von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung mit Bescheid vom 8. April 2002 erteilte Ausnahmezulassung von verschiedenen Verboten der Lärmverordnung für die Zeit von 14.00 bis 23.30 Uhr. Diese Ausnahmen betreffen den Schutz der Nachtruhe ab 22.00 Uhr, die Einhaltung der Ruhezeit zwischen 20.00 und 22.00 Uhr sowie den Schutz vor Störungen durch öffentliche Vergnügungsveranstaltungen, durch Tonwiedergabegeräte und Musikinstrumente. Die Ausnahmezulassung wurde mit der herausragenden touristischen und kulturellen Bedeutung und dem weltweiten Interesse an der Love-Parade begründet, die traditionell im Monat Juli jeden Jahres auf der Straße des 17. Juni zwischen dem Ernst-Reuter-Platz und dem Brandenburger Tor stattfinde und deshalb bei der Abwägung mit den zu erwartenden erheblichen Belästigungen für die Anwohner durch Lärmeinwirkungen Vorrang vor deren schutzwürdigen Belangen genießen müsse, zumal sich die Lärmbelästigungen auf einen begrenzten Zeitraum innerhalb nur eines Veranstaltungstages konzentrieren würden. Mit den Nebenbestimmungen Nr. 7 bis 9 wurde der Beigeladenen aufgegeben, zur Ermittlung des tatsächlichen Ausmaßes der von der Veranstaltung ausgehenden Lärmimmissionen während der gesamten Veranstaltungszeit Lärmmessungen auf eigene Kosten durch eine nach § 26 BImSchG bekannt gegebene Stelle vorzunehmen, diese nach den Maßstäben der Freizeitlärm-Richtlinie auszuwerten und ein entsprechendes Sachverständigengutachten bis zum 15. August 2002 vorzulegen. Daraus will der Antragsgegner Anhaltspunkte für Emissionsbeschränkungen der Beschallungsanlagen bei der nächsten Love-Parade im Jahr 2003 gewinnen. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung des Bescheids vom 8. April 2002 wurde mit der internationalen Anziehungskraft des Ereignisses und die dadurch notwendige Gewährleistung der Terminsicherheit für die traditionelle Paradestrecke begründet.

Die Antragstellerin hat gegen den Bescheid vom 8. April 2002 Klage beim Verwaltungsgericht Berlin erhoben (VG 10 A 265.02). Ihr Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage hatte keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz mit Beschluss vom 2. Juli 2002 zurückgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass die Vorrangbeurteilung des Antragsgegners bei der Ausnahmeerteilung nach § 8 Abs. 1 LärmVO im Hinblick auf die herausragende touristische und kulturelle Bedeutung der weltweites Interesse genießenden Veranstaltung nicht zu beanstanden sei. Der Einwand der Antragstellerin, dass typische Begleiterscheinungen, wie das Lagern hunderttausender Personen im Tiergarten, das tagelange laute Abspielen von Musik rund um ihr Grundstück, das unerlaubte Eindringen in ihren Vorgarten und das Überfliegen des Grundstücks mit zahlreichen Hubschraubern nicht in die Abwägung mit eingeflossen und diese dadurch ermessensfehlerhaft sei, greife nicht durch, weil die lärmschutzrechtliche Ausnahmezulassung diese Vorgänge der Sache nach nicht erfassen könne. Die diesbezüglichen Einwände richteten sich vielmehr gegen die Zulassung der Veranstaltung als solche, die nicht Streitgegenstand sei. Dass innerhalb eines Zeitraums von 14.00 bis 23.30 Uhr durch die Ausnahmegewährung schon die Schwelle zur Gesundheitsgefährdung überschritten werden könnte, sei nicht substantiiert dargetan und auch aufgrund früherer Messungen nicht glaubhaft, so dass dahinstehen könne, ob der Antragstellerin nicht während der relativ kurzen Dauer der Veranstaltung sogar ein vorübergehendes Ausweichen an einen anderen Ort zumutbar wäre.

Hiergegen richtet sich die vorliegende Beschwerde, mit der die Antragstellerin geltend macht, dass der Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 2. Juli 2002 bereits wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs aufzuheben sei, weil ihr nach der Einsichtnahme in die Verwaltungsvorgänge am 1. Juli 2002 keine hinreichende Zeit zur Stellungnahme mehr geblieben, sondern bereits am nächsten Tag, dem 2. Juli, per Telefax der gerichtliche Beschluss übermittelt worden sei. Die Antragstellerin fordert überdies eine immissionsschutzrechtliche Gesamtbetrachtung der Veranstaltung, die die zeitgleich stattfindenden spontanen Partys im Tiergarten, die mitgebrachten eigenen Beschallungsanlagen der Teilnehmer und die lärmintensiven Hubschraubereinsätze, die zeitweise selbst die Musik der Veranstaltung übertönten, einschließe. Anhand früherer Messergebnisse hätte der Antragsgegner hinreichende Erkenntnisse zur Verfü-gung gehabt, dass die Richtwerte der Freizeitlärm-Richtlinie von der Veranstaltung der Love-Parade selbst und den mit ihr einhergehenden und damit zurechenbaren „Randbelastungen„ wiederum überschritten werden würden. Die von der Beigeladenen in Auftrag gegebenen Messungen aus dem Jahr 2001 seien zwar nicht repräsentativ, weil sie nur sporadisch und auch nur an in der näheren Umgebung gelegenen Immissionsorten durchgeführt worden seien. Sie hätten jedoch die deutliche Störwirkung der Bässe und der sonstigen Immissionsbelastungen von bis zu 80 dB(A) erkennen lassen. Diese hätten Grundlage für eine Begrenzung der Emissionspegel der Paradewagen durch Festsetzung von Schutzauflagen sein müssen, deren Unterbleiben ein Ermessensfehler sei. Solange der Antragsgegner keine Schutzauflagen zugunsten der Anwohner in die Ausnahmezulassung aufnehme, habe die Antragstellerin einen Anspruch auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage. Hierdurch sei die Durchführung der Love-Parade als solche nicht gefährdet, denn der Antragsgegner sei ohne weiteres in der Lage, seine Entscheidung innerhalb weniger Tage nachzubessern und dadurch anwohnerverträglicher zu gestalten.

Die Antragstellerin beantragt, den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 2. Juli 2002 zu ändern und die aufschiebende Wirkung ihrer Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 8. April 2002 wiederherzustellen.

Der Antragsgegner und die Beigeladene beantragen, die Beschwerde zurückzuweisen.

Die Beigeladene führt aus, dass die Antragstellerin nicht substantiiert vorgetragen habe, dass die von den Paradewagen ausgehende Musik geeignet sei, dauerhafte Gesundheitsschäden bei ihr hervorzurufen. Die im Verwaltungsvorgang befindliche amtsärztliche Stellungnahme zum Messbericht vom 8. Juli 2000 habe dies bei einer so kurzzeitigen Einwirkung selbst bei einem Mittelungspegel von 80 dB(A) ausgeschlossen. Die an den benachbarten Standorten … durch den Messbericht aus dem Jahre 2001 gewonnenen Messwerte lägen zwischen 60 dB(A) und 80 dB(A) und damit noch im Rahmen der von den Ausführungsbestimmungen zur Lärmverordnung (15.2 Abs. 1 AV-LärmVO) tagsüber innerhalb und außerhalb der Ruhezeiten tolerierten Werte für Geräuschspitzen.

Der Antragsgegner bezieht sich auf die Ausführungen des Verwaltungsgerichts in dem angefochtenen Beschluss vom 2. Juli 2002 und weist ergänzend darauf hin, dass ihm der von der Beigeladenen in Auftrag gegebene Messbericht zu den Schallimmissionen während der Love-Parade 2001 erst nach der Ausnahmezulassung zur Kenntnis gelangt sei, aber zu keinem anderen Ergebnis geführt hätte.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.

II.

Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 2. Juli 2002 hat keinen Erfolg. Der verfahrensrechtliche Einwand des fehlenden rechtlichen Gehörs (Art. 103 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) greift nicht durch. Eine schriftliche Ankündigung des Verfahrensbevollmächtigten der Antragstellerin, nach der Stellung des Antrages Akteneinsicht nehmen und weiter vortragen zu wollen, ist in den Gerichtsakten nicht enthalten. Die in dem Beschwerdeschriftsatz in diesem Zusammenhang benannte Passage auf Seite 8 des Antragsschriftsatzes vom 29. Mai 2002 betrifft nur die Nachreichung weiterer eidesstattlicher Versicherungen zum Ausmaß der Anwohnerbeeinträchtigungen. Da der Veranstaltungstermin der Love-Parade 2002 am 13. Juli 2002 feststand und damit auch der für das Verwaltungsgericht verbleibende zeitliche Entscheidungsrahmen, wäre es Sache des Verfahrensbevollmächtigten der Antragstellerin gewesen, alsbald nach Zugang der Antragserwiderung von der Möglichkeit der Einsicht in die zusammen mit dieser vorgelegten Akten Gebrauch zu machen und diese nicht bis zum Eingang einer Stellungnahme der Beigeladenen aufzuschieben. Unabhängig davon führt auch die in den Beschwerdeschriftsatz aufgenommene „unterbliebene„ Stellungnahme nicht zu einem Erfolg des Rechtsschutzbegehrens. Eine Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage kommt nicht in Betracht, denn der angefochtene Bescheid vom 8. April 2002 ist bei summarischer Prüfung trotz fehlender Schutzauflagen zur Emissionsbegrenzung der Beschallungsanlagen voraussichtlich nicht rechtswidrig. Die Ausnahmezulassung nach § 8 Abs. 1 der Verordnung zur Bekämpfung des Lärms – LärmVO – in der Fassung vom 6. Juli 1994 (GVBl. S. 231), zuletzt geändert durch Verordnung vom 29. Mai 2001 (GVBl. S. 165) steht im Ermessen des Antragsgegners. Dieses Ermessen ist nicht etwa deshalb auf Null reduziert, weil der Vorrang, den ein Vorhaben vor den schutzwürdigen Belangen Dritter im Sinne dieser Vorschrift haben muss, durch einen Senatsbeschluss für mehrere Jahre (hier: bis 2006) „antizipiert„ worden ist (vgl. II des Senatsbeschlusses vom 5. März 2002, Abgh.-Drucks. 15/304). Die zuständige Behörde hat auch in einem solchen Fall im Rahmen ihrer Ermessensentscheidung zu prüfen, wie den schutzwürdigen Belangen Dritter in lärmschutzrechtlicher Hinsicht weitgehend genügt werden kann, ohne zugleich den Veranstaltungscharakter zu gefährden. Dies gilt umso mehr, als die Love-Parade nunmehr bestätigt durch den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 2001 (vgl. NJW 2001, S. 2459) keine Privilegierung durch den verfassungsrechtlichen Schutz des Artikel 8 Abs. 1 GG genießt, so dass den individuellen Rechtspositionen unbeteiligter Dritter wieder ungleich stärkeres Gewicht beizumessen ist (vgl. auch Wiefelspütz, NJW 2002, S. 274 ff.). Hierbei verkennt der Senat nicht die Besonderheiten der Love-Parade, die ihre jugendkulturelle Anziehungskraft weitgehend aus Grenzüberschreitungen als „Spaßfaktor„ dieser öffentlichen Massenparty bezieht, die auch die Lautstärke der Musikbeschallung umfassen. Wenn der Antragsgegner in dieser Situation jedoch trotz zahlreicher Anwohnerbeschwerden von jeglichen Beschränkungen der zu erwartenden Lärmbelästigungen durch Schutzauflagen abgesehen hat, ist dies nur deshalb (noch) vertretbar, weil ihm für solche Festsetzungen, wie sie auch Nr. 15.2 der Ausführungsvorschriften der Verordnung zur Bekämpfung des Lärms – AV-LärmVO – vom 22. Juli 1996 (ABl. S. 2792), geändert durch die Ausführungsvorschriften vom 17. August 1999 (ABl. S. 3344), vorsieht, zurzeit tragfähige Entscheidungsgrundlagen fehlen. Diese sollen bei der diesjährigen Love-Parade 2002 erstmals mit Hilfe der in den Nebenbestimmungen Nr. 7 bis 9 des Bescheids vom 8. April 2002 geforderten Lärmmessungen ermittelt werden, um die Grundlagen für die zukünftig zu fordernden Beschränkungen zu erarbeiten. Ohne diese Messungen dürfte eine Emissionsbegrenzung im Wege von Nebenbestimmungen kaum rechtlich unangreifbar und praktikabel zugleich zu formulieren sein, denn für lautstarke Veranstaltungen mit großem Einwirkbereich im Freien ist es nicht zweckmäßig, einfach nur die Immissionsrichtwerte für die betroffenen schutzwürdigen Gebiete als Nebenbestimmungen vorzugeben. Vielmehr müssen für definierte Punkte im Nahbereich des Veranstaltungsortes Emissionsrichtwerte (Mittelungspegel, Geräuschspitzen) festgelegt werden, mit einem an Zeit und Dauer der Veranstaltung sowie der Entfernung zum Immissionsort orientierten Dämpfungsmaß, das im Ergebnis dazu führt, dass die unter Nr. 15.2 Abs. 1 AV-LärmVO genannten Immissionsrichtwerte, die denen der Freizeitlärm-Richtlinie vom 22. Juli 1996 (ABl. S. 2803) – dort unter Nr. 5.4 – entsprechen, nicht überschritten werden. Unabhängig davon wäre auch die technische Umsetzung in Form einer Nachrüstung der Beschallungsanlagen (z.B. entsprechend Nr. 6 Freizeitlärm-Richtlinie durch geeignete Begrenzer) voraussichtlich aufgrund der Kürze der verbleibenden Zeit kaum möglich, so dass die Forderung der Antragstellerin nach emissionsbegrenzenden Schutzauflagen zurzeit auf etwas tatsächlich Unmögliches (§ 275 Abs. 1 BGB) gerichtet wäre.

Dafür, dass die Antragstellerin bei der Durchführung der Love-Parade 2002 aufgrund der Ausnahmezulassung vom 8. April 2002 in ihrer gegenwärtigen Form dauerhafte Gesundheitsgefährdungen zu befürchten hätte, spricht der zurzeit nur zur Verfügung stehende Messbericht zu den Schallimmissionen während der „Love-Parade 2001„ des Ingenieurbüros … nicht. Dessen zumindest zur Orientierung heranziehbaren Messergebnisse an den damals dem Wohnhaus der Antragstellerin am nächsten gelegenen Messpunkten 6 (…) und 7 (…) zeigen einen sich zwischen 67 und 77 dB(A) bewegenden Mittelungspegel; nach der amtsärztlichen Einschätzung der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales vom 14. August 2000 sind im Falle einer einmaligen, über acht Stunden dauernden Lärmbelastung mit einem Mittelungspegel von 80 dB(A) jedenfalls dauerhafte gesundheitliche Auswirkungen nicht zu erwarten. Hinzukommt, dass d… der Antragstellerin eingebettet zwischen verschiedenen anderen … auf der der Straße des 17. Juni abgewandten Seite der … liegt, und auch deshalb eher von günstigeren Immissionswerten als den für die Messpunkte 6 und 7 im Jahre 2001 ermittelten Werten auszugehen wäre.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Festsetzung des Wertes des Beschwerdegegenstandes folgt aus §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 Satz 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).