Aussage gegen Aussage – wenn das Wort entscheidet

In der Justiz gibt es Fälle, in denen alle Indizien und Spuren fehlen, und nur das gesprochene Wort der beteiligten Parteien bleibt. Diese als „Aussage-gegen-Aussage-Konstellation“ bezeichnete Situation bringt das Gericht in ein komplexes Spannungsfeld, in dem die Last der Beweiswürdigung auf den feinsten Nuancen menschlicher Erinnerung und Glaubwürdigkeit ruht. Hier steht die Aussage eines mutmaßlichen Opfers gegen das entschiedene Bestreiten des Beschuldigten – zwei diametral entgegengesetzte Schilderungen, die sich nicht ohne weiteres zu einem klaren Bild fügen lassen.

Gerade im Sexualstrafrecht sind solche Situationen keine Seltenheit. Oft gibt es weder physische Beweise noch neutrale Zeugen, nur die Worte zweier Menschen, deren Perspektiven kaum unterschiedlicher sein könnten. Wie kann in diesem Vakuum objektiver Beweise eine Entscheidung getroffen werden? Welche Instrumente stehen der Justiz zur Verfügung, um zwischen Behauptung und Wahrheit zu unterscheiden? Und, vielleicht die drängendste aller Fragen: Wer bekommt Recht, wenn Aussage gegen Aussage steht?

In diesem Beitrag werfen wir einen tiefen Blick in die juristischen Grundlagen und psychologischen Prüfmechanismen, die solche Fälle kennzeichnen. Was zählt vor Gericht wirklich, wenn es keine Spuren, nur die flüchtigen Worte gibt?

 

 

I. Was passiert bei Aussage gegen Aussage ohne Beweise?

Die Aussage-gegen-Aussage-Konstellation wirft das Justizsystem in eine äußerst heikle Lage. Während gewöhnlich ein Füllhorn objektiver Beweise – wie Dokumente, physische Spuren oder Zeugenaussagen – den Tathergang erhellt, bleiben in dieser Konstellation oft nur zwei gegensätzliche Schilderungen: Die belastende Aussage eines Zeugen und das bestreitende Wort des Angeklagten. Die Justiz steht dann vor der schwierigen Frage, ob die Aussage eines einzigen Zeugen, oft das mutmaßliche Opfer selbst, ausreicht, um eine Verurteilung zu stützen.

Der Grundsatz „in dubio pro reo“ – „im Zweifel für den Angeklagten“ – entfaltet in solchen Fällen seine Schutzwirkung: Ein Gericht darf bei unüberwindbaren Zweifeln keine Verurteilung aussprechen. Doch in der Praxis wirkt dieser Grundsatz oft weniger automatisch als vermutet. Die Justiz ist auch in einer solchen Konstellation zur Wahrheitsfindung verpflichtet und darf sich nicht lediglich auf den Zweifel zurückziehen. Vielmehr wird der Grundsatz zur letzten Instanz, die erst greift, wenn sämtliche anderen Mittel zur Wahrheitsfindung ausgeschöpft wurden.

Die Verfahrensstrategie der Verteidigung ist in solchen Fällen essenziell. Ein erfahrener Strafverteidiger wird in die Tiefe der belastenden Aussage eintauchen, etwaige Lücken, Ungereimtheiten oder psychologische Einflüsse der Zeugenrolle offenlegen und die Aussage Glaubwürdigkeitskriterien unterziehen. Nur ein detailliertes Herausarbeiten solcher Schwachstellen kann die Glaubhaftigkeit der Belastung infrage stellen und die Verfahrensführung so lenken, dass ein Freispruch oder eine Einstellung realistischer wird. Dabei ist die Verfahrenseinstellung keineswegs ein Automatismus; das Gericht muss überzeugt sein, dass die Zweifel so gravierend sind, dass sie die Schuldüberzeugung erschüttern.

 

II. Die entscheidenden Kriterien – wie das Gericht Aussagen bewertet

Gemäß § 261 StPO hat das Gericht eine freie Beweiswürdigung, was bedeutet, dass es das Ergebnis der Beweisaufnahme selbstständig und nach eigenem Ermessen bewerten darf.

§ 261 Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung

Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.

Dennoch gelten hohe Anforderungen an die Begründung, wenn ein Urteil nur auf der Aussage eines einzigen Zeugen basiert. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat eine Reihe von Kriterien formuliert, die Gerichte zur Bewertung der Glaubwürdigkeit von Aussagen heranziehen (vgl. BGH, Urteil vom 29. Juli 1998 – 1 StR 94/98, BGHSt 44, 153, 158 f.). Diese lassen sich sinnvoll in fünf zentrale Kategorien unterteilen:

 

1. Konsistenz und Stabilität der Aussage

Aussagekonstanz: Eine glaubhafte Schilderung bleibt über verschiedene Befragungen hinweg in ihrem wesentlichen Inhalt stabil. Widersprüche im „Kerngeschehen“ – also im zentralen Hergang der Ereignisse – schwächen die Glaubwürdigkeit erheblich. Das Gericht überprüft dabei nicht nur die Aussage im Laufe des Verfahrens, sondern auch ihre Kohärenz seit der ersten Schilderung.

 

2. Detailreichtum und Logik

Detailfülle und innere Stimmigkeit: Aussagen, die mit Details auch zu scheinbar nebensächlichen Aspekten gefüllt sind, gelten häufig als authentischer. Gerade kleine, ausgefallene Details, die in der Erinnerung haften bleiben, wirken überzeugend. Gleichzeitig wird die logische Kohärenz der Schilderung analysiert – also ob sie ohne innere Widersprüche oder Brüche das Geschehen nachvollziehbar darstellt.

 

3. Persönliche Erlebnisschilderungen und Emotionen

Psychische Vorgänge und Erleben: Glaubhafte Aussagen sind in der Regel nicht nur durch Fakten, sondern auch durch die Schilderung emotionaler Begleitvorgänge gekennzeichnet. Angst, Überraschung, Entsetzen oder andere Gefühle, die das Erleben des Geschehens einrahmen, wirken in glaubhaften Schilderungen authentisch und in sich stimmig. Das Gericht prüft, ob diese Schilderungen zu der Persönlichkeit des Zeugen und dem geschilderten Tatverlauf passen.

 

4. Motivationslage und potenzielle Falschbeschuldigung

Motive und Belastungsabsicht: Gibt es plausible Gründe für eine mögliche Falschbelastung? Hier untersucht das Gericht, ob der Belastungszeuge ein persönliches Motiv haben könnte, das auf Rache, Eifersucht oder einen persönlichen Vorteil hindeutet. Solche Motive können die Aussage beeinflussen und werden sorgfältig geprüft, um voreingenommene oder gar gezielt falsche Aussagen aufzudecken.

 

5. Entstehung der Aussage und äußere Einflüsse

Aussagegenese: Die Umstände, unter denen die Aussage entstanden ist, sind von besonderer Bedeutung. War der Zeuge bereits vor vor ihr in Gesprächen oder Einflussnahmen ausgesetzt, die seine Erinnerung oder Darstellung hätten beeinflussen können? Gerade suggestive Fragen durch Ermittlungsbeamte oder andere Dritte können Erinnerungen formen oder verändern, was die Authentizität der Aussage gefährden kann.


Diese fünf Kategorien bieten dem Gericht klare, jedoch anspruchsvolle Orientierungspunkte zur Bewertung der Aussage. Sie lassen Raum für die gebotene Sorgfalt und sorgen dafür, dass jede Aussage mit einem höchstmöglichen Maß an Objektivität gewürdigt wird

 

III. Wer bekommt Recht, wenn Aussage gegen Aussage steht?

Obwohl die Entscheidung letztlich im Ermessen des Gerichts liegt, gibt es in solchen Konstellationen keinen einfachen Weg, um das Ergebnis vorherzusehen. Ein erfahrener Strafverteidiger kann jedoch eine große Rolle spielen, indem er die Glaubwürdigkeit der gegnerischen Aussage anzweifelt und Anträge auf zusätzliche Beweismittel stellt, wie beispielsweise ein psychologisches Gutachten zur Glaubhaftigkeit des Belastungszeugen.

In besonders kritischen Fällen, wie im Sexualstrafrecht, besteht oft die Möglichkeit, ein Glaubwürdigkeitsgutachten in Auftrag zu geben. Dabei untersuchen aussagepsychologische Gutachter, ob der Zeuge in der Lage war, die Geschehnisse korrekt wahrzunehmen, zu speichern und wiederzugeben. Der Einsatz eines solchen Gutachtens ist sinnvoll, wenn Zweifel an der Aussagequalität bestehen, etwa durch eine beeinträchtigte Erinnerung des Zeugen aufgrund von Alkohol- oder Medikamentenkonsum.

 

IV. Unschuldsvermutung und „in dubio pro reo“: Theorie und Praxis

Die Unschuldsvermutung bildet das Fundament unseres Strafrechts: Bis zur rechtskräftigen Verurteilung gilt jeder Mensch als unschuldig. Der Grundsatz „in dubio pro reo“ – „im Zweifel für den Angeklagten“ – stellt sicher, dass keine Verurteilung erfolgt, wenn begründete Zweifel an der Schuld bestehen. Doch dieser Grundsatz ist keine Beweisregel, sondern eine Entscheidungsregel. Das bedeutet, dass das Gericht die Beweisaufnahme voll ausschöpfen muss, bevor es aufgrund verbleibender Zweifel zugunsten des Angeklagten entscheidet.

Der BGH hat in seinen Urteilen wiederholt klargestellt, dass der Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden darf. Ein Gerichtsurteil muss immer schlüssig, nachvollziehbar und widerspruchsfrei sein. Wenn das Gericht nach sorgfältiger Würdigung aller Indizien zum Ergebnis kommt, dass die Aussage des Belastungszeugen überzeugender ist als die des Angeklagten, kann es trotz fehlender Beweise zu einer Verurteilung kommen.

 

V. Falschbeschuldigungen und ihre Konsequenzen

Ohne objektive Beweise besteht stets die Gefahr, dass eine subjektive Darstellung zu einer unberechtigten Verurteilung führt. Besonders im Sexualstrafrecht sind Konstellationen häufig, in denen belastende Aussagen durch emotionale Faktoren wie Rache oder enttäuschte Erwartungen motiviert sind. Diese Falschbeschuldigungen, die oft in hochgradig persönlichen oder konfliktbeladenen Situationen entstehen, können weitreichende Folgen für die beschuldigte Person haben. Ein erfahrener Strafverteidiger wird hier genau auf solche Motive achten, um im besten Fall eine Falschbeschuldigung zu entlarven.

Ein gängiger psychologischer Ansatz ist hierbei die „Null-Hypothese“, die besagt, dass eine Aussage solange als unwahr gelten muss, bis sie positiv belegt wird. Diese Hypothese dient als Schutzmechanismus, um sicherzustellen, dass eine Anschuldigung niemals ungeprüft als wahr angenommen wird. Vor allem in Fällen ohne Zeugen oder objektive Beweise schützt die Null-Hypothese davor, dass subjektive Schilderungen fälschlicherweise als Tatsachen behandelt werden.

In solchen Konstellationen ist es zudem sinnvoll, eine Gegenanzeige wegen falscher Verdächtigung zu erwägen, um die Glaubwürdigkeit der belastenden Partei zu schwächen. Das Risiko einer Falschbeschuldigung ist hoch, und die Konsequenzen können verheerend sein – nicht nur rechtlich, sondern auch persönlich und gesellschaftlich. Der Einsatz erfahrener Verteidiger, aussagepsychologischer Gutachter und gezielter Beweisführung trägt maßgeblich dazu bei, dass Falschbeschuldigungen als das entlarvt werden, was sie sind: subjektive Wahrheiten, die einer objektiven Justiz keinen Bestand halten können.

 

VI. Fazit: Ein Balanceakt zwischen Recht und Gerechtigkeit

Eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation fordert das Justizsystem wie kaum eine andere. In einem Raum, der für klare Beweise und sachliche Fakten geschaffen wurde, bringt das Urteil in solchen Fällen die tiefsten Ebenen der menschlichen Psyche ans Licht. Dieser Prozess stützt sich auf die subjektive Erzählkunst der Beteiligten und verlangt von der Rechtsprechung eine präzise Balance zwischen der Unschuldsvermutung und dem Streben nach Wahrheit.

Wer in einer solchen Situation Wahrheit und Unschuld verteidigen muss, weiß, dass die Justiz eine feinsinnige Bewertung der Glaubwürdigkeit erwartet. Zwischen Erlebtem und subjektiver Wahrnehmung verschwimmen die Grenzen, und jedes Wort gewinnt an Gewicht. Doch selbst bei aller methodischen Präzision und psychologischen Expertise bleibt das Ergebnis oft unvorhersehbar.

Der Schutz vor voreiligen Schuldsprüchen und die präzise Aufarbeitung eines jeden Details werden zum Schlüssel, um der Wahrheit so nah wie möglich zu kommen. Dieses Fazit ist so herausfordernd wie die Konstellation selbst: In Fällen, in denen es nur das Wort gibt, bildet die Gerechtigkeit oft ein filigranes Geflecht – und das Ringen um sie erweist sich als eines der anspruchsvollsten Unterfangen der Justiz.

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Jurawelt Redaktion

Christopher Molter

Studium:

  • Student der Rechtswissenschaften an der EBS Universität für Wirtschaft und Recht
  • Schwerpunktbereich: Bank- und Kapitalmarktrecht
  • Auslandsaufenthalt an der University of Alberta (Kanada)

Jurawelt:

  • Redakteur & Studentischer Mitarbeiter